Karneval der Toten
Mary war nie besonders achtsam gewesen. Sie war immer so zerstreut.«
Zerstreutheit hätte in der Situation als Erklärung wohl kaum ausgereicht. »Er machte ihr aber doch keine Vorwürfe, oder? Und das kleine Mädchen war ja schließlich seine Stieftochter, nicht seine Tochter.« Das hätte sich auch passender ausdrücken lassen, kam für Hermione aber wahrscheinlich aufs Gleiche heraus.
Kauend ließ sie es sich durch den Kopf gehen. »Ich glaube nicht, dass Declan Mary deswegen Vorwürfe machte, das nicht, aber irgendjemandem will man es ja wohl zum Vorwurf machen.«
»Na, zunächst einmal doch wohl dem Kidnapper, würde ich meinen«, sagte Melrose trocken. Der Sarkasmus entging ihr. Er fuhr fort: »Es wurde bestimmt viel darüber spekuliert. Ich meine, über die Frage, wieso das Kind verschleppt wurde?«
»Declan hat schließlich einen Haufen Geld.«
»Es gab aber doch nie eine Lösegeldforderung.«
»Das war seltsam. Es hieß ja auch, jemand hätte es aus Rache getan, aber das kann ich mir nicht so recht vorstellen.«
»Wieso sollte sich jemand rächen wollen? Woher stammt denn diese Idee?«
»Na, wegen der jungen Hardcastle.«
Zum ersten Mal bei diesem Gespräch war Melrose verblüfft. »Wieso sollte die junge Hardcastle sich rächen wollen?«
Hermione schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Elsie Hardcastle war das Opfer.« Sie nippte weiter an ihrem Tee.
Melrose hätte fast über den Tisch gelangt und ihr die Tasse weggenommen. Endlich ein Fitzelchen Information, obwohl es sich nach mehr als nur einem Fitzelchen anhörte – und schon war bei ihr wieder Schluss. »Was... inwiefern war sie Opfer? Wovon?«
»Na, von Mary Scott. Es hatte nämlich geregnet, und die Ampel hat nicht richtig funktioniert. Das war in Meva. Mehrere Monate vor Floras Verschwinden.«
Gott, endlich sagte sie etwas, aber wie mühselig, sich einen Reim darauf zu machen. »Moment, noch mal von vorn. Zunächst: Wo liegt Meva?«
»Mevagissey ist ein Fischerdorf nicht weit von Heligan. Es war stockdunkel, die Ampel sprang nicht um, so dass Mary schließlich nichts anderes übrig blieb als weiterzufahren. Elsie überquerte gerade die Straße, hatte ihren Regenschirm aufgespannt. Mary...«, Hermione zuckte die Schultern, »... hat sie angefahren. Und was noch schlimmer ist, sie hielt nicht an. Beging demnach Fahrerflucht. Doch sie konnte den Coroner davon überzeugen, dass sie ehrlich angenommen hatte, sie wäre gegen irgendwas auf der Straße gefahren und hätte nie und nimmer gedacht, dass es ein Mensch war. Es regnete so heftig, es goss in Strömen, und sie glaubte, sie hätte dadurch die Lage nicht richtig eingeschätzt. Außerdem weiß jeder, wie schlecht es sich auf dieser engen Straße fährt.
Sie hat Elsie nicht frontal erwischt, und sie hat sie auch keinesfalls überfahren. Sie kam in heller Aufregung in Angel Gate an und sagte zu Declan, sie fürchte, sie hätte ein Tier oder einen Menschen angefahren. Er verständigte sofort die Polizei. Es war also bestimmt keine Fahrerflucht, jedenfalls nicht im landläufigen Sinn. Der Coroner war überrascht, dass das Mädchen durch den Aufprall tatsächlich getötet worden war.«
»Es wurde trotzdem Anklage gegen sie erhoben?«
»Ja. Aber Mary wurde nicht verurteilt.« Hermione machte eine Pause. »Manche glaubten, das Geld ihres Mannes hätte sie gerettet – und die Geschichte, die sie erzählte. Wundert mich ja, dass Sie nichts davon gehört haben. Declan sagte mir, Sie sind ein Freund von diesem Superintendent von Scotland Yard.« Sie lächelte.
Sollte sich jetzt etwa herausstellen, dass Hermione Hobbs doch recht clever war? Und dass der Fall damit völlig anders lag?
Sie fuhr fort: »Sie können sich ja vorstellen, wie das für die Hardcastles war, als Mary freigesprochen wurde.«
»Das Gericht stellte ihre Unschuld fest?«
»Ja. Die Eltern Hardcastle reagierten am Ende doch sehr verhalten. Es war schließlich ein schrecklicher Unfall, und Mary war so erschüttert, dass es einem, nun ja, schwer fiel, sie zu hassen.«
Wäre er der Vater gewesen, dachte Melrose, es wäre ihm nicht schwer gefallen, sie zu hassen oder umzubringen. Oder Schlimmeres.
»Es ist durchaus möglich, dass Declan -« Sie hielt inne und fummelte nervös mit ihrem Löffel herum.
»Dass Declan?«
»Ich sollte lieber nichts sagen.«
O, tun Sie’s, meine Beste, dann spendiere ich Ihnen auch noch eine Kanne Tee, einen Teller Scones, das ganze Zeug im Fenster, das Sie schon die ganze Zeit so begehrlich
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