Karneval der Toten
gern.«
»Danke, aber ich bin mit meinem kleinen Morris Minor da. Den sollten Sie mal sehen. Das sind ganz entzückende Autos.«
Die Leute waren immer so stolz auf ihre Morris Minors, dass sie es jedem auf die Nase banden, so ein Gefährt zu haben. »Unser Gespräch war mir ein Vergnügen«, sagte Melrose.
»Mir auch. Und danke für den Tee.«
Die Besitzerin bediente gleichzeitig auch noch die Kasse (Computer waren hier Fehlanzeige!), und Melrose fragte sich, ob sie vielleicht auch noch als Köchin und Reinigungskraft fungierte.
Sie bedankten sich noch einmal gegenseitig und gingen zu ihren jeweiligen Parkplätzen davon.
20
Das Erdgeschoss von Angel Gate war hell erleuchtet. Ob Declan Scott vielleicht gerade eine Party gab, fragte sich Melrose, während er aus dem Wagen stieg.
Er ging den Kiesweg am Haus entlang zu seinem Cottage, als plötzlich Lulu auftauchte.
»Ich soll Ihnen von Mr. Scott ausrichten, Sie sollen mal reinkommen.« Sie deutete mit dem gekrümmten Daumen über die Schulter in die Richtung.
»In einen speziellen Raum? Oder soll ich einfach wie Banquos Geist im Esszimmer herumwandeln?«
Lulu, die immer alles absolut wörtlich nahm, ließ sich diese Frage durch den Kopf gehen. Sie schob ihre Brille auf der Nase hoch und schien sich gerade eine Antwort zu überlegen. »In die Bibliothek, glaub ich. Da sind nämlich die anderen. Wer ist Banquo? Hatte der wirklich einen Geist, oder denken Sie sich das bloß aus?«
»Mr. B. war ein König, der von Macbeth umgebracht wurde.« Nein. »Von Macduff?« Nein. Lieber Gott, hatte er jetzt etwa schon die Handlung von Macbeth vergessen? »Na, es war jedenfalls einer von den Macs. Dann kehrte er wieder und spukte – ach, egal. Shakespeare ist wieder mal schuld an verräterischem Treiben und blutiger Rache.«
»Gab’s da viele davon?«
»Wovon?«
»Von den Macs?«
»Na, und ob. Es wimmelte sozusagen von Macs. Lassen wir das. Es ist bloß eine Geschichte.« Er machte kehrt und ging auf das Haus zu.
»Flora war keine«, sagte Lulu, als wollte sie ihn ins Land der Geschichten zurückrufen.
Überrascht drehte Melrose sich zu ihr um. »Du meinst, Flora war nicht bloß eine Geschichte?«
Lulu nickte. »Die wurde wirklich gestohlen.«
»Kanntest du sie denn gut?« Die beiden waren ungefähr im gleichen Alter gewesen.
Sie nickte. »Wir haben immer miteinander gespielt. Keiner weiß, wo sie hin ist. Oder wer sie mitgenommen hat.«
In ihren Worten entdeckte Melrose, wohl kaum überraschend, eine leise Unruhe.
»Ich weiß es aber«, sagte Lulu. Sie hatte ein Stückchen Schnur um den Finger, das sie immer wieder auf- und abwickelte.
Er starrte sie verblüfft an. »Ach ja? Wer denn?«
»Der Kinderdieb.«
Ein ganz neuer Aspekt, ein neuer Rekord in puncto kindliche Fantasie. »Heißt das ein oder der Kinderdieb?« Eine sehr beruhigende Frage! »Ich meine, gibt es nur einen oder sind es mehrere?« Noch so eine brillante Frage. Wo steckte bloß Jury? Wo war der Kerl, wenn man ihn mal brauchte? Melrose fühlte sich arg in Bedrängnis, wenn er es auch ungern zugeben wollte.
Lulu ließ sich durch ihn aber nicht verwirren, sondern hielt an ihrer Überzeugung fest. »Bloß einer. Es gibt bloß den einen Kinderdieb.«
»Aha. Hm, und wie sieht der aus?«
»Wie jeder. Wie Sie.«
» Ich? Eins kann ich dir versichern, ich bin nicht der Kinderdieb. Ich würde nicht im Traum dran denken, ein Kind zu stehlen!«
»Genau so was würde er auch sagen.«
Sie stand vor ihm, die Füße nach innen eingeknickt, eine bei Kindern besonders beliebte Stellung.
»Du glaubst doch nicht im Ernst , dass ich es bin, oder?«
»Nein.«
Da war er aber erleichtert!
»Sie brächten es gar nicht zustande«, fügte sie hinzu. »Ich sag ja auch bloß, es könnte jeder sein. Er könnte auch eine Frau sein.«
»Hör mal, wieso glaubst du, dass dieser Mensch Flora mitgenommen hat?« Das ganze Thema machte Melrose nervös.
Lulu blickte in die Ferne. »Weil er ein Kinderdieb ist. Wenn Sie es doch wären, würden Sie das denn nicht tun?«
»Wir bewegen uns hier im Kreis!« Er ging es aus einer anderen Richtung an. »Hast du das der Polizei erzählt?« Macalvie wäre entzückt, wenn er diese Theorie überall herumposaunt hörte.
Sie zuckte die Achseln. »Die haben mich ja nie gefragt.«
»Komisch, so etwas tun die wohl nicht.«
Den Kopf schräg gelegt, machte Lulu jetzt Knoten in die Schnur. »Ich hätte es denen sagen können.« Sie schwang die Schnur um den Finger und durch die
Weitere Kostenlose Bücher