Karneval der Toten
links, bis sie wieder eine Straße hochfuhren.
»Lauter Steilhänge, scheint mir.« Wiggins trieb den Wagen weiter wie einen störrischen Esel.
»Was Sie nicht sagen!«
Es war stockfinster. Jury zog es vor, nicht aus dem Beifahrerfenster zu schauen.
»Komisch, wie sich die Dunkelheit auf einmal so geschwind über alles legt.«
»Geschwind wie ein Sargdeckel.«
Endlich führte die Straße geradeaus.
»Was hat Ihnen Cody sonst noch über die Hardcastles gesagt?«
»Dass sie untere Mittelschicht sind, und dass der Tod der jungen Elsie vermutlich das einschneidendste Erlebnis in ihrem Leben ist.«
»Das kann man sich ja wohl denken, oder? Ein Kind zu verlieren ist ja wohl das Schlimmste, was einem passieren kann. War es jedenfalls für Mary Scott. Und für Declan Scott auch, obwohl Flora nicht sein eigenes Kind war.« Jury verglich prüfend Hausnummern und Namen.
»Ja. Ich habe mich nicht richtig ausgedrückt. Cody meinte, die Eltern hätten die Sache wohl ziemlich aufgebauscht. Klingt schrecklich, wenn man das so sagt. Er hätte ihnen das ganze übertriebene Getue damals einfach nicht abgenommen, meinte er. Die beiden – oder jedenfalls die Mutter – hätten die Sache eben überreizt.«
Jury runzelte die Stirn. »Das ist ja interessant.«
»Cody kam es so vor, als hätte sie sich direkt gefreut über die Aufmerksamkeit der Polizei.«
»Ist doch nett, wenn man beliebt ist, nicht? Das ist es. Dort drüben links.« Auf dem gepflasterten Vorplatz neben dem Schildchen mit der Aufschrift HARDCASTLE HAVEN war Platz für ein weiteres Auto.
»Hardcastle. Hieß so nicht eine Figur in einer von diesen Komödien aus der Restaurationszeit?«, sagte Jury, während er die Autotür öffnete und ausstieg. Er betrachtete die kiesverputzte Vorderseite des Hauses, wo das düstere Verandalicht in der Dunkelheit kaum auszumachen war. » Irrtümer einer Nacht, so heißt das Stück. Von Goldsmith, glaube ich.«
»Wie bitte?«
»Das Theaterstück. Achtzehntes Jahrhundert. Restaurationskomödie.«
Sie gingen einen in gleichmäßig angeordneten Steinkreisen angelegten Weg entlang, der irgendwie künstlich wirkte. »Wie heißen sie mit Vornamen?«
»Sie heißt Maeve, er William. Dann gibt es da auch noch das andere Kind, Peter, der ist etwa zwölf. Der hat sie aber nicht alle.«
Jury wollte Wiggins gerade zurechtweisen, als die Tür aufging und Maeve (wie Jury vermutete) in einem leuchtenden Blümchenkleid dastand, einem ganzen Blumengarten auf hellblauem Hintergrund, der für März doch ein wenig zu sommerlich anmutete. Sie hatte einen teigig fahlen Teint und ein heiter geschwungenes Mündchen – sicher voller Klatsch und Tratsch, dachte Jury bei sich.
»Sind Sie die Männer von Scotland Yard?«, fragte sie gleich, noch ehe Jury und Wiggins ihre Dienstausweise hervorgeholt hatten. »William! Sie sind da!«
Es hörte sich ganz so an wie etwas, das man rief, um Verwandte anzukündigen, die zu einer Feier oder einem sehnlichst erwarteten Sportabend gekommen waren.
»Na, dann bring sie doch rein, Liebes!«, kam die Antwort zurück.
»Treten Sie nur ein. Gehen Sie einfach nach hinten durch – so ist’s recht – ins Wohnzimmer.«
Der Anblick des Hausflurs im flackernden, wässrigen Licht der Wandlampen und der Straßenlaterne draußen im Regen, deren Schein durch die offene Tür glitt, ließ Jury an einen verregneten Durchgang denken.
Bei William hinten im Wohnzimmer war auch noch ein dümmlich glotzender Junge mit den kleinen, dicht beieinander stehenden Augen und dem schwammigen Gesicht eines vom Down-Syndrom gezeichneten Kindes.
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte Maeve. »Unser Petey hat Tee gemacht!«
Petey reagierte aber gar nicht, und Jury konnte sich denken, dass seine Beteiligung am Teekochen sich wohl darin erschöpft hatte, die Zuckerdose aufs Tablett zu stellen. Petey belegte Sergeant Wiggins sofort mit Beschlag, indem er sich dicht neben dessen Sessel stellte und ihm die Hand auf den Arm legte. Weil Wiggins nicht wollte, dass es so aussah, als würde er die Hand abschütteln, tat er so, als wollte er in einer Seitentasche seines Mantels, den er immer noch anhatte, nach etwas greifen – nach seinem Notizbuch, seinem Schreibstift. Er platzierte den Unterarm auch nicht wieder auf der Sessellehne, als er sah, dass Petey immer noch auf den Fleck fixiert war.
»Na, na, Petey,«, flötete seine Mutter, »der Herr ist ein Polizeibeamter, der verhaftet dich womöglich, wenn du dich nicht gut beträgst.«
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