Karparthianer 02 Dunkle Macht des Herzens
kenne keinen einzigen Arzt, der mit >kleiner Rotschopf< angesprochen wird.«
Ihr leises Lachen echote noch lange, nachdem er eingeschlafen war, in seinem Kopf. Auf einer Stufe seines Bewusstseins nahm er wahr, dass sie in der Nähe war, um Erde, Kräuter und Speichel für seine Wunden zu vermischen, und dieses Wissen beruhigte ihn und hielt Zorn, Schmerz und das Grauen vor einer leeren, einsamen Welt in Schach.
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Kapitel 4
Shea öffnete die Tür und atmete die Nachtluft in tiefen Zü-gen ein. Die Fülle an Informationen, die die Luft mit-brachte, war geradezu erschreckend. Tiere durchstreiften den Wald, und Shea wusste genau, wo sich jedes Tier aufhielt, von dem Wolfsrudel in mehreren Meilen Entfernung bis zu drei Mäusen, die in der Nähe durchs Gebüsch huschten. Sie konnte Wasser in tosenden Kaskaden hinabrauschen und leise über Felsen plätschern hören. Der Wind wehte durch die Bäume, das Unterholz und die Blätter am Boden. Die Sterne glitzerten: am Himmel wie Millionen Edelsteine, die in einem Prisma an' Farben erstrahlten.
Wie verzaubert trat Shea aus der Hütte und ließ die Tür offen, um den Geruch von Blut und Schweiß und Schmerzen hinauszulassen und durch frische, klare Luft zu ersetzen. Sie konnte den Saft der Bäume wie Blut durch Stämme und Äste fließen hören. Jede Pflanze hatte ihren ganz besonderen Geruch, ihre ganz eigene Farbgebung. Es war, als wäre sie in eine völlig neue Welt hineingeboren worden. Sie hob ihr Gesicht zu den Sternen, sog Luft in ihre Lungen ein und entspannte sich zum ersten Mal seit achtundvierzig Stunden.
Eine Eule schwebte mit weit ausgebreiteten Flügeln lautlos am Himmel, und Shea konnte mit ihrem geschärften Sehvermögen jede einzelne Feder schillern sehen. Der Zauber dieser neuen Sinneswahrnehmung lockte sie tiefer in den Wald hinein. Wassertropfen funkelten wie Diamanten auf moosbewachsenen Felsen.
Das Moos selbst sah aus, als wären Smaragde am Fluss-122
ufer und an den Baumstämmen verstreut worden. Sie hatte noch nie im Leben etwas so Schönes gesehen.
Wie immer verarbeitete ihr Verstand die Daten, die ihr Gehirn aufnahm. Das alles war wie ein riesiges Puzzle, doch allmählich fügten sich die einzelnen Teile ineinander. Sie war von einer Frau zur Welt gebracht worden, die normales Essen zu sich nahm und bei Sonnenschein ausging. Aber sie - und andere -wiesen eindeutige Abweichungen in Bezug auf Lichtempfind-lichkeit, Stoffwechsel und Nahrungsverträglichkeit auf.
Dass die Legenden über Vampire auf Wahrheit beruhten, war ausgeschlossen. Aber konnte es eine andere Rasse mit unglaublichen Fähigkeiten geben, die Blut trinken musste, um zu überleben? Konnten Angehörige dieser Art unvorstellbar lange leben, das Unfassbare überleben und die Funktion von Herz und Lunge regulieren? Ihre Körper müssten alles ganz anders verarbeiten. Ihre Organe müssten anders funktionieren. Alles an ihnen müsste anders sein.
Shea strich ihr Haar zurück, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nagte nervös an ihrer Unterlippe. Es klang wie etwas aus einem Märchen. Oder aus einem Horrorfilm. Unmöglich -denn das war es doch, oder? Ein Mann konnte nicht mit so schweren Verletzungen sieben Jahre in der Erde begraben überleben. So etwas war völlig ausgeschlossen. Aber sie hatte ihn gefunden. Es war keine Lüge. Sie hatte ihn selbst ausgegraben. Wie konnten Verstand und Psyche eines Menschen nach sieben Jahren des Lebendigbegrabenseins und nach unausgesetzten qualvollen Schmerzen intakt bleiben?
Shea schreckte vor dieser Frage zurück, sie woüte sich nicht näher damit befassen.
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Und was passierte mit ihrem eigenen Körper? Sie war anders geworden. Einige Verändemngen hatten vor sieben Jahren begonnen, mit plötzlichen Schmerzen, die sie beinahe um den Verstand brachten. Diese Episode war nie geklärt worden. Dann hatten die Albträume angefangen, hartnäckig, unerbittlich und ohne ihr einen Moment Ruhe zu gönnen. Jacques. Immer Jacques. Das Bild, das ihr diese Schlächter vor zwei Jahren gezeigt hatten. Das siebte Foto. Jacques. Irgendetwas hatte ständig nach ihr gerufen, sie an jenen grauenhaften Ort der Folter und der Qualen gezogen. Zu Jacques. Sie beide mussten in irgendeiner Form miteinander verbunden sein. Rein vom Verstand her erschien es unmöglich. Nach allen Normen, die sie kannte, war es unmöglich. Aber fiel ihr eigenes Dasein etwa nicht aus dem Rahmen?
Ihr Bedarf an Bluttransfusionen war nicht psychosomatisch bedingt; sie hatte
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