Karparthianer 02 Dunkle Macht des Herzens
ihrer beider Sicherheit verantwortlich war, und trotzdem bekam sie nicht die Augen auf, und schon gar nicht war sie dazu imstande, aufzustehen und draußen nachzuschauen, ob jemand in der Nähe war.
Die Sonne war schon längst hinter den Bergen versunken, als Shea wieder zu sich kam. Nagender Hunger quälte sie, doch bei dem Gedanken an Essen drehte sich ihr der Magen um. Mühsam setzte sie sich auf, schwächer, als sie sich je zuvor gefühlt hatte. Sie fuhr mit einer Hand durch ihr üppiges tiefrotes Haar.
Jacques' Finger schlossen sich um ihren Arm und glitten bis zu ihrem Handgelenk hinunter. Sie war klein und zart, aber sie verfügte über eine ungeheure innere Stärke. Es erstaunte ihn, wie tapfer und beherzt sie war, wie mitfühlend. Er fand sie faszinierend und rätselhaft.
Die Welt, wie er sie kannte, hatte vor sieben Jahren begonnen: Schmerz, Einsamkeit und Finsternis hatten sie ausgemacht. Das Monster in ihm war gewachsen und hatte seine Seele überschattet. Zuerst hatte er überhaupt keine Gefühle gehabt, nur den Willen, am Leben zu bleiben, eine eiserne Entschlossenheit und das Versprechen auf Vergeltung im Austausch gegen seine Seele. Er würde sie finden, den Verräter und die beiden Menschen, und er würde sie vernichten!
Aber sobald er seine Gefährtin gefunden hatte, waren trotz der Entfernung, die zwischen ihnen lag, wieder Gefühle in ihm entstanden, dunkler, schwelender Zorn, 130
der niemals enden würde, bis er eine Möglichkeit gefunden hatte, sich für den Verlust seiner Seele zu rächen. Jedes Gefühl, das er hatte, war dunkel und hässlich gewesen. Bis Shea ihn verändert hatte. Seit dem Moment, als er in ihr Bewusstsein eingetreten war, befand er sich an diesem Zufluchtsort, war ein Teil von ihr, ein Schatten, so schwach, dass sie ihn nicht immer wahrnahm. Er konnte es nicht ertragen, fern von ihr zu sein.
Jacques' Faust ballte sich um ihr dickes, weiches Haar.
Sie brachte Empfindungen in ihm zum Vorschein, für die er keinen Namen hatte. Nie wieder würde er es ertragen, eingesperrt und allein zu sein. Und er würde niemals zulassen, dass Shea sich in Gefahr begab. Indem er insgeheim seinen geschwächten Körper verfluchte, zog er ihr seidiges Haar an sein Gesicht und atmete ihren Duft ein.
»Ich fühle mich furchtbar wackelig, Jacques«, gestand sie, als sie sich leicht schwankend auf die Bettkante setzte. Sie fand es seltsam, jemanden zum Reden zu haben, aufzuwachen und nicht allein zu sein. Shea hätte sich in dieser Situation unwohl fühlen sollen - sie hatte ihr Leben noch nie mit jemandem geteilt -, aber zwischen ihr und Jacques herrschte eine eigenartige Vertrautheit, als hätte sie ihn schon immer gekannt.
In ihrem Leben hatte es stets Isolation gegeben, eine gewisse Distanz zwischen ihr und den anderen. Jacques ignorierte diese Barriere und ging in ihrem Bewusstsein ein und aus, als gehörte er dorthin. Seine Art, sie zu berühren, war besitzergreifend, sogar intim. Ihre Gefühle für ihn verwirrten Shea ebenso wie die Tatsache, dass sie die seltsame Nähe, die sie beide teilten, akzeptierte. Es 131
versetzte sie in freudige Erregung, diesen seltenen wissenschaftlichen Fund gemacht zu haben, der vielleicht eine Antwort für die schreckliche Krankheit bereithielt, die alle, die daran litten, als nosferatu, als unrein brandmarkte. Die Untoten. Diese Art war zu einem Leben im Verborgenen und in der ständigen Furcht vor Entdeckung verdammt. Es war wichtig herauszufinden, ob es sich bei ihnen um eine eigene Spezies handelte oder ob ein seltener genetischer Code dafür verantwortlich war, dass sie Blut brauchten, um zu überleben.
Shea betrachtete Jacques' abgezehrtes Gesicht, das trotzdem so anziehend war. Er wirkte jung und alterslos zugleich. Er sah gezeichnet aus, als hätte er unendliches Leid erfahren, und doch wie aus Stein gemeißelt. Sie konnte die Macht erkennen, die in ihm steckte; sie umgab ihn wie eine zweite Haut. Sie sah ihn nachdenklich an und biss sich auf die Lippe, während sie ein wenig von ihm abrückte. Die Stärke und die Macht in ihm nahmen zu. Sein Körper mochte langsam heilen, aber seine ungewöhnlichen Kräfte schienen wesentlich schneller zurückzukehren. Einen Moment lang streifte sie der Gedanke, dass sie sich eigendich vor dem Geschöpf fürchten sollte, das jetzt regungslos im Bett lag. Es war nicht zu übersehen, dass Jacques extrem gefährlich werden konnte und zu Gewalttätigkeit imstande war.
Besonders jetzt, da sein Geist so verstört
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