Karparthianer 02 Dunkle Macht des Herzens
achthundert Jahre? Sie presste eine Hand an ihre Stirn. Was würde er als Nächstes machen? Sich in eine Fledermaus ver-wandeln? In einen Wolf? Jetzt konnte sie nichts mehr überraschen. Wenn ich die Wahl habe, wäre mir der Wolf lieber. Ein unverkennbares Lächeln lag in seiner Stimme, die durch ihr Bewusstsein strich. Es milderte die harten Linien seines Mundes und gab ihm dieses sinnliche Aussehen, das sie unwiderstehlich fand.
Das glaube ich, gab sie zurück, wobei sich unerklärliche Gefühle in ihr regten.
Es gab so vieles über Jacques, das sie nicht wusste. Wie 171
mächtig war er tatsächlich? Wenn es wirklich Vampire gab, stammten sie dann von Karpatianern ab, wie es Jacques angedeutet hatte? Bedeutete das, dass sich in Jacques ein kalter, gnadenloser Killer verbarg, der darauf lauerte, zum Vorschein zu kommen? Sieben Jahre lebendig begraben zu sein, müsste einiges an latenter Gewaltbereitschaft zutage fördern. Ebenso wenig konnte sie die Möglichkeit ausschließen, dass er völlig geistesgestört war. Sie spürte den Wahnsinn in ihm, wie sehr er darum kämpfte, seine Erinnerungen und die Wahrheit zu finden und die Gewalttätigkeit zu unterdrücken, die in ihm schlummerte.
Shea seufzte leise und strich mit einer Fingerspitze über sein Haar. Ihr schmolz das Herz, wenn sie ihn so daliegen sah, so verletzlich wie ein kleiner Junge. Was hatte er nur an sich, dass es ihr jedes Mal fast das Herz brach, wenn sie der Tatsache ins Auge sah, dass er eines Tages gesund sein würde und sie ihn verlassen müsste?
Ich bin sehr mächtig.
Shea zuckte zusammen und schaute zu ihm. Jacques hatte sich nicht gerührt, und seine Augen waren immer noch geschlossen. »Davon bin ich überzeugt.« Brauchte er wirklich noch Ermutigung?
Ich habe nicht die Absicht, dich gehen zu lassen.
Sie lachte leise. »Noch eben habe ich gedacht, wie verletzlich und jungenhaft du aussiehst, wenn du schläfst. Jetzt kommst du mir eher wie ein verzogener Bengel vor.«
Ich bin mächtiger als ein Vampir, kleiner Rotschopf. Ich jage und vernichte sie. Es wird mir keine Mühe bereiten, dich bei mir zu behalten.
»Ich muss eben nur dafür sorgen, dir so sehr auf die 172
Nerven zu gehen, dass du froh bist, wenn du mich loswirst.« Sie schenkte ihm die letzte Dosis Blut ein. »Das kann ich, weißt du. Meine Patienten sind immer froh, wenn sie mich zum letzten Mal gesehen haben.«
Vielleicht bin ich wirklich verrückt, Shea. Ich habe lange da-rüber nachgedacht. Ich weiß, dass ich die Natur eines Raubtiers habe. Er klang sehr nachdenklich. Offensichtlich widmete er jeder ihrer Befürchtungen seine volle Aufmerksamkeit. Aber wenn ich wirklich wahnsinnig bin, kann ich nicht ohne dich sein. Dann brauche ich dich ständig an meiner Seite, um keine Gefahr für den Rest der Menschheit darzustellen.
Shea fing an zu lachen, aber als ihr bewusst wurde, dass er es ernst meinte, verblasste ihr Lächeln. Er machte keine Scherze. Er war so aufrichtig, wie es ihm möglich war. Jacques wusste nicht, ob er noch bei Verstand war.
»Manchmal brichst du mir das Herz, wilder Mann«, sagte sie leise.
Du willst mich verlassen, Shea. Ich spüre in dir den Wunsch, auf Abstand zu mir zu gehen.
»Ich habe mit dir mehr Zeit verbracht als je mit einem anderen Menschen in meinem Leben. Ich habe dir mehr über mich erzählt, mehr mit dir geredet, gelacht... und ...
und ...« Sie brach ab und errötete heftig.
Jacques öffnete die Augen, wandte den Kopf und sah sie an.
»Und noch mehr gemacht«, fuhr sie energisch fort.
»Ich denke wirklich nicht daran, dich zu verlassen. Ich brauche nur ab und zu ein bisschen Freiraum. Du nicht?«
Sein Bewusstsein verschmolz mit ihrem. Sofort spürte sie gähnende Leere, ein schwarzes Loch, das nichts füllen konnte. Ihr Herz hämmerte beinahe panisch. Die Welt 173
war grau und schwarz, düster und hässlich. Es gab keine Erlösung, keine Hoffnung, nur die schreckliche Leere völliger Verzweiflung.
Ihr stockte der Atem. Sanft strich sie über sein Haar.
»Du magst es wirklich nicht, allein zu sein.«
Ich glaube, der Ausdruck nicht mögen ist nicht annähernd stark genug, erwiderte er trocken. Ich kann nicht atmen, wenn du nicht in meiner Nähe bist.
»Mir war nicht bewusst, dass es so schlimm für dich ist. Tut mir leid, so unsensibel gewesen zu sein, Jacques.
Das wollte ich nicht. Ich neige dazu, lange im Voraus zu planen. Die Gedanken, die du in mir gesehen hast, drehen sich um etwas ganz anderes. Unsere Lage wird
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