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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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lebte inzwischen in einem Seniorenheim mit Pflegestation in
Le Vésinet, das in einem großen, unter Napoleon III . erbauten Landsitz untergebracht und viel schicker und
viel teurer war als das vorhergehende, eine Art elegante
Hightech-Sterbeanstalt. Die geräumigen Wohnungen bestanden aus einem Wohn- und
einem Schlafzimmer, und die Bewohner verfügten über einen großen LCD -Fernseher mit
Abonnements für Kabel- und Satellitenkanäle, einen DVD -Player und einen DSL -Internetanschluss.
Die Gebäude befanden sich in einem Park mit einem kleinen See voller Enten und
schnurgeraden Alleen, auf denen Rehe liefen. Sie konnten sogar, wenn sie es
wünschten, einen kleinen Garten nutzen, um Gemüse und Blumen zu ziehen – doch
nur wenige machten davon Gebrauch. Jed hatte sich lange mit seinem Vater herumstreiten
müssen, ehe dieser dem Heimwechsel zugestimmt hatte, er war mehrfach in ihn
gedrungen, um ihm zu verstehen zu geben, dass es wirklich nicht mehr nötig war,
auf absurde Weise zu sparen – um ihm verstehen zu geben, dass er nun reich war. Selbstverständlich
nahm das Heim nur Leute auf, die während ihres aktiven Lebens in den höchsten
Kreisen der französischen Bourgeoisie verkehrt hatten; »kleine Scheißer und
Snobs«, hatte Jeds Vater, der aus obskuren Gründen stolz auf seine kleinbürgerliche
Abstammung blieb, sie einmal genannt.
    Jed begriff nicht sofort, warum sein
Vater ihn hatte herkommen lassen. Nach einem kurzen Spaziergang durch den Park
– er hatte inzwischen Mühe zu laufen – setzten sie sich in einen großen Raum,
dessen Holzverkleidung und Ledersessel den Eindruck eines englischen Clubs
hervorrufen sollten, und bestellten sich einen Kaffee. Er wurde ihnen in einer
Silberkanne serviert, mit Kaffeesahne und einem Teller Feingebäck. Der Raum war
leer bis auf einen Greis, der allein vor einer Tasse heißer Schokolade saß, den
Kopf hin und her wiegte und im Begriff war einzunicken. Er hatte langes,
weißes, lockiges Haar, trug einen hellen Anzug und um den Hals einen locker
gebundenen Seidenschal. Er wirkte wie ein ehemaliger Varietékünstler – ein
Operettensänger zum Beispiel, der seine größten Erfolge auf dem Festival von
Lamalou-les-Bains erzielt haben mochte –, jedenfalls hätte man eher erwartet,
ihm in einem von einer karitativen Vereinigung für notleidende alte Künstler finanzierten
Heim zu begegnen als in dieser Institution, die in Frankreich, selbst an der
Côte d’Azur ihresgleichen suchte, man musste schon nach Monaco oder in die
Schweiz fahren, um etwas Entsprechendes zu finden.
    Jeds Vater betrachtete den alten Beau
eine ganze Weile stumm, ehe er sich an seinen Sohn wandte. »Der da hat Glück«,
sagte er schließlich. »Er hat eine sehr seltene Krankheit – eine Demeleumaiose
oder wie immer das heißt. Er leidet überhaupt nicht, sondern ist nur ständig
erschöpft und schläft alle paar Minuten ein, selbst beim Essen. Wenn er
spazieren geht, setzt er sich nach wenigen Metern auf eine Bank und nickt ein.
Er schläft jeden Tag ein bisschen mehr, und irgendwann wacht er dann gar nicht
mehr auf. Es gibt Menschen, die haben bis zum letzten Moment Glück.«
    Er drehte sich zu seinem Sohn um und
blickte ihm fest in die Augen. »Ich wollte nicht am Telefon mit dir darüber
sprechen, aber erfahren sollst du es natürlich: Ich habe mich an eine Schweizer
Sterbehilfeorganisation gewandt. Ich habe beschlossen, ihre Dienste in Anspruch
zu nehmen.«
    Jed reagierte nicht sofort, was
seinem Vater die Zeit ließ, seine Argumente vorzubringen, die sich darauf
beschränkten, dass er das Leben satt habe.
    »Fühlst du dich hier nicht wohl?«,
fragte sein Sohn schließlich mit zitternder Stimme.
    Doch, er sei hier sehr gut
untergebracht, er hätte nicht besser untergebracht sein können, aber Jed müsse
einfach begreifen, dass er sich nirgendwo mehr wohlfühlen könne, dass er sich ganz allgemein im Leben nicht
mehr wohlfühle (er begann sich aufzuregen und sprach inzwischen mit lauter,
fast wütender Stimme, aber der alte Sänger schlief sowieso fest, und in dem
Raum war alles ruhig). Wenn er noch weiterleben wolle, müsse man ihm einen neuen
künstlichen Darmausgang legen, und allmählich reiche es ihm mit diesen Späßen.
Außerdem habe er große Schmerzen, die kaum zu ertragen seien.
    »Geben sie dir denn kein Morphium?«,
fragte Jed verwundert.
    O doch, sie gäben ihm so viel
Morphium, wie er haben wolle, ihnen sei natürlich daran gelegen, dass sich die
Heimbewohner ruhig verhielten,

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