Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
ihre Stimme nicht wiedererkannt. Sie wusste nicht mehr als das, was in
den Zeitungen stand, aber sie hatte es für richtig gehalten, ihn anzurufen, da
sie sich – im Übrigen zu Recht – gesagt hatte, dass er keine Zeitungen las.)
Und selbst nachdem er aufgelegt hatte, glaubte er noch eine Weile an einen
Irrtum, weil sich seine Beziehung zu Houellebecq in seinen Augen im
Anfangsstadium befand; er hatte noch immer die Vorstellung, dass sie dazu
bestimmt waren, sich oft wiederzusehen und vielleicht sogar Freunde zu werden, wenn sich
dieser Begriff überhaupt auf Menschen ihres Schlages anwenden ließ. Sie hatten
sich zwar nicht wiedergesehen, seit er ihm Anfang Januar das Gemälde gebracht
hatte, und nun war es schon Ende November. Er hatte Houellebecq auch nicht
angerufen und nicht den Versuch gemacht, ihn zu treffen, aber schließlich
handelte es sich um einen Mann, der zwanzig Jahre älter war als er, und für Jed
bestand das Privileg des Alters, das einzige, traurige Privileg des Alters
darin, das Recht zu haben, in Frieden gelassen zu werden , und er war bei ihren Begegnungen zu der Überzeugung
gekommen, dass Houellebecq sich vor allem wünschte, in
Frieden gelassen zu werden ; dennoch hatte
er gehofft, dass Houellebecq ihn anrufen würde, denn nach ihrer letzten Begegnung
hatte er gespürt, dass er ihm noch viel zu sagen hatte und begierig auf seine
Antworten war. Er hatte seit Beginn des Jahres ohnehin so gut wie nichts getan:
Er hatte seinen Fotoapparat hervorgeholt, ohne jedoch Pinsel und Leinwand
wegzuräumen – wie auch immer, er befand sich in einem Zustand extremer
Ungewissheit. Er war nicht einmal umgezogen, obwohl das sehr leicht gewesen
wäre.
Am Tag der Beerdigung war er ziemlich
müde gewesen
und hatte nicht viel von der Messe mitbekommen. Es war um Schmerz, aber auch um
Hoffnung und Wiederauferstehung gegangen, jedenfalls war die Botschaft ziemlich
verworren gewesen. Auf den sauberen, schachbrettartig angelegten Alleen des
Friedhofs Montparnasse mit ihrem kalibriertem Kies dagegen war ihm die Sache
absolut klar vorgekommen: Das Ende seiner Beziehung zu Houellebecq war ein Fall
von höherer Gewalt . Die Menschen, die um ihn herum versammelt waren und von denen er
niemanden kannte, schienen ebenfalls davon überzeugt zu sein. Und als er sich
jetzt zurückerinnerte, erfüllte ihn mit einem Schlag die Gewissheit, dass sein
Vater das Vorhaben, seinem Leben ein Ende zu setzen, unweigerlich ausführen
würde und dass Jed früher oder später den Anruf der Heimleiterin bekommen
werde. Das würde der Schlussstrich sein, ohne nochmalige Aussprache oder
Erklärung: Das letzte Wort würde nie gesagt werden, womit er sich mutlos und
voller Bedauern abzufinden hatte.
Doch ihn erwartete auch noch etwas
anderes, denn ein paar Tage später rief ihn ein Typ namens Ferber an. Seine
Stimme war sanft und angenehm, ganz anders, als er sich die eines Polizeibeamten
vorgestellt hatte. Er teilte ihm mit, dass sein Vorgesetzter Hauptkommissar
Jasselin ihn in ihrer Dienststelle am Quai des Orfèvres empfangen würde.
XI
H AUPTKOMMISSAR J ASSELIN SEI in einer Besprechung, wurde ihm bei seiner Ankunft
mitgeteilt. Jed setzte sich in ein kleines Wartezimmer mit grünen
Plastikstühlen und blätterte in einer alten Ausgabe der Zeitschrift Polizeikräfte , ehe es ihm in
den Sinn kam, aus dem Fenster zu schauen: Der Blick auf den Pont Neuf, den Quai
de Conti und weiter hinten den Pont des Arts war herrlich. Im winterlichen
Licht wirkte die Seine wie erstarrt, die Wasseroberfläche war mattgrau. Die
Kuppel des Institut de France hatte geradezu etwas Anmutiges, musste er ein
wenig gegen seinen Willen einräumen. Einem Gebäude eine gerundete Form zu
geben, das ließ sich natürlich durch nichts rechtfertigen, rational betrachtet
war das ganz einfach verlorener Raum. Aber vielleicht war die Moderne ja ein
Irrtum, sagte sich Jed zum ersten Mal in seinem Leben. Eine Überlegung rein rhetorischer
Natur, denn in Westeuropa war die Moderne schon seit langem beendet.
Jasselin stürzte in den Raum und riss
ihn aus seinen Gedanken. Er wirkte angespannt und ziemlich genervt. Er hatte
tatsächlich im Lauf des Vormittags eine weitere Enttäuschung erlebt: Der
Vergleich der Vorgehensweise des Täters mit jener von Serienmördern hatte
absolut nichts ergeben. Weder in ganz Europa noch in den USA noch in Japan war ein
Mörder in einer Datenbank erfasst worden, der seine Opfer in Streifen schnitt und
diese im Raum verteilte, das hatte es noch
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