Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
ohne
großen Aufwand, nur ganz nebenbei. Er glaubte nicht an diese Spur, das stand
fest, aber er wusste auch, dass man sich manchmal irren konnte. Doch als Ferber
ihn fragte: »Sollen wir mit den Ausländerinnen weitermachen? Das kostet
natürlich ein bisschen Geld, weil wir jemanden hinschicken müssen, aber wir
sind durchaus dazu berechtigt, immerhin handelt es sich um einen Mord«,
erwiderte er ohne zu zögern, das sei nicht nötig. In jenem Augenblick befand er
sich in seinem Büro und betrachtete noch einmal, wie schon Dutzende von Malen
innerhalb der letzten zwei Wochen, aufs Geratewohl die Fotos vom Fußboden des
Tatorts – verzweigte, ineinander verschlungene rote und schwarze Blutspuren –
und die Aufnahmen der beim Begräbnis des Schriftstellers anwesenden Personen:
technisch einwandfreie Nahaufnahmen von Menschen mit traurigen Gesichtern.
»Du machst einen besorgten Eindruck,
Jean-Pierre«, sagte Ferber.
»Ja, ich spüre, dass wir nicht
weiterkommen, und ich weiß nicht mehr, was wir tun sollen. Setz dich,
Christian.«
Ferber betrachtete einen Augenblick
seinen Vorgesetzten, der noch immer mechanisch die Fotos durchblätterte, ohne
sie im Einzelnen zu betrachten, ein bisschen wie ein Kartenspiel.
»Was erhoffst du dir denn genau von
diesen Fotos?«
»Ich weiß nicht. Ich spüre, dass sie
uns irgendwie weiterhelfen können, aber ich weiß nicht, auf welche Weise.«
»Vielleicht sollten wir Lorrain mal
fragen.«
»Ist der nicht schon pensioniert?«
»Doch, mehr oder weniger, ich weiß
nicht so recht, was für einen Status er hat; er kommt ein paar Stunden in der
Woche vorbei. Auf jeden Fall ist seine Stelle nicht neu besetzt worden.«
Guillaume Lorrain war nur
einfacher Kriminalobermeister, aber er besaß eine seltsame Fähigkeit: Er hatte
ein absolutes visuelles, fotografisches Gedächtnis – wenn er einmal das Foto
von jemandem gesehen hatte, und sei es nur in der Zeitung, war er imstande, ihn
zehn oder zwanzig Jahre später wiederzuerkennen. Bevor es das Softwareprogramm
Visio gegeben hatte, das es erlaubte, das Foto eines Verdächtigen mit der
Datenbank erfasster Verbrecher abzugleichen, hatte man ihn zu Rate gezogen.
Selbstverständlich beschränkte sich seine Gabe nicht nur auf Verbrecher,
sondern betraf jeden Menschen, dessen Foto er unter ganz gleich welchen
Umständen gesehen hatte.
Sie statteten ihm am folgenden Freitag
in seinem Büro einen Besuch ab. Lorrain war ein kleiner stämmiger Mann mit
grauem Haar. Er war ruhig und besonnen und erweckte den Eindruck, als habe er
sein ganzes Leben in einem Büro verbracht – was im Übrigen nicht ganz falsch
war: Gleich nachdem man seine seltsame Begabung festgestellt hatte, war er ans
Kriminaldezernat versetzt und von allen anderen Aufgaben entlastet worden.
Jasselin erklärte ihm, was er von ihm
erwartete. Lorrain machte sich sofort an die Arbeit und betrachtete
nacheinander die am Tag der Beerdigung aufgenommenen Fotos. Manchmal legte er
eine Aufnahme sehr schnell wieder beiseite, in anderen Fällen schaute er sie
fast eine Minute lang unverwandt an, ehe er sie weglegte. Seine Konzentration
war furchteinflößend; wie funktionierte sein Gehirn bloß? Es war ein seltsamer
Anblick.
Nach zwanzig Minuten nahm er ein Foto
und wiegte den Oberkörper vor und zurück. »Ich hab ihn gesehen … Ich hab den
Typen irgendwo schon mal gesehen …«, sagte er mit fast tonloser Stimme.
Jasselin zuckte nervös zusammen, beherrschte sich aber, um ihn nicht zu
unterbrechen. Lorrain wiegte den Oberkörper noch eine Zeitlang, die Jasselin
endlos vorkam, vor und zurück und sagte immer wieder halblaut: »Ich hab ihn
gesehen … Ich hab ihn gesehen …«, wie eine Art persönliches Mantra; dann hielt
er plötzlich jäh inne und reichte Jasselin das Foto, das einen Mann um die
vierzig mit feinen Zügen, sehr heller Gesichtsfarbe und halblangem, schwarzem
Haar zeigte.
»Wer ist das?«, fragte Jasselin.
»Jed Martin. Bei dem Namen bin ich mir
sicher. Wo ich sein Foto gesehen habe, kann ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit
sagen, aber mir scheint, es war in Le Parisien , der die Eröffnung einer Ausstellung ankündigte.
Dieser Typ muss in irgendeiner Weise etwas mit Kunst zu tun haben.«
X
J ED HATTE VON H OUELLEBECQS T OD zu einem Zeitpunkt erfahren, da er von Tag zu Tag mit
einer unheilvollen Nachricht gerechnet hatte, die seinen Vater betraf. Entgegen
seinen Angewohnheiten hatte dieser Ende September angerufen und Jed gebeten,
ihn zu besuchen. Er
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