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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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aber ob das vielleicht ein Leben sei, die ganze
Zeit unter Morphium zu stehen?
    Jed war davon überzeugt, dass es sogar
ein besonders beneidenswertes Leben ohne Sorgen sei, ohne belastende Verantwortungen,
ohne Begierde und ohne Furcht, fast wie ein pflanzliches Leben, in dem man die
sanfte Liebkosung von Sonne und Wind genoss. Er vermutete jedoch, dass sein
Vater diesen Standpunkt wohl kaum teilen würde. Er war ein ehemaliger Firmenchef,
ein aktiver Mensch, und solche Leute standen Drogen zumeist ablehnend
gegenüber, sagte er sich.
    »Und außerdem, was geht dich das
eigentlich an?«, rief sein Vater aggressiv. (Jed wurde plötzlich bewusst, dass
er der Nörgelei des alten Mannes schon seit einer ganzen Weile nicht mehr
zugehört hatte.) Er zögerte und druckste herum, ehe er schließlich erwiderte,
doch, in gewissem Sinn habe er den Eindruck, dass ihn das immerhin etwas
angehe. »Es ist schon nicht sehr witzig, das Kind einer Selbstmörderin zu sein
…«, fügte er dann hinzu. Sein Vater sank sichtlich getroffen in sich zusammen,
ehe er äußerst heftig entgegnete: »Damit hat das überhaupt nichts zu tun!«
    Wenn beide Elternteile Selbstmord
verübt hatten, fuhr Jed fort, ohne den Einwurf seines Vaters zu beachten,
geriet man als deren Kind in die unangenehme, heikle Lage von jemandem, dessen
Bande ans Leben einer gewissen Festigkeit entbehrten. Er sprach sehr lange und
ziemlich gewandt, was ihn im Nachhinein etwas erstaunte, da er eigentlich nicht
sonderlich lebenslustig war, im Allgemeinen wurde er eher als zurückhaltender,
trauriger Mensch angesehen. Aber er hatte sofort begriffen, dass die einzige
Möglichkeit, seinen Vater zu beeinflussen, darin bestand, an sein
Pflichtbewusstsein zu appellieren – sein Vater war seit jeher ein
pflichtbewusster Mensch gewesen, im Grunde hatten nur Arbeit und Pflicht in
seinem Leben gezählt. »Das Subjekt der Sittlichkeit
in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit
selbst, ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen« , sagte Jed immer wieder mechanisch zu sich selbst,
ohne den Satz wirklich zu begreifen. Ihn betörte vor allem dessen plastische
Eleganz sowie das darin enthaltene Argument von allgemeiner Tragweite: die
kulturelle Regression, die die generell verbreitete Zuflucht zur Sterbehilfe
darstellte, die Heuchelei und der im Grunde eindeutig schlechte Charakter ihrer
berühmtesten Verfechter, die moralische Überlegenheit der Palliativpflege usw.
    Als er gegen fünf Uhr das
Seniorenheim verließ, stand die Sonne schon knapp über dem Horizont, und ihre
letzten Strahlen hatten eine herrliche goldene Färbung angenommen. Spatzen hüpften
über das vom Raureif glitzernde Gras. Purpur- und scharlachrote Wolken zogen in
seltsam zerrissenen Formen in Richtung Westen. Es war unmöglich, an jenem Abend
die Schönheit der Welt zu leugnen. War sein Vater empfänglich für solche Dinge?
Er hatte nie das geringste Interesse für Natur gezeigt, aber wer weiß,
vielleicht tat er es im hohen Alter doch? Er selbst hatte während seines
Besuchs bei Houellebecq festgestellt, dass er die ländliche Schönheit, die ihm
bis dahin immer gleichgültig gewesen war, allmählich zu schätzen begann. Er
legte seinem Vater ungelenk den Arm um die Schultern und drückte ihm einen Kuss
auf die rauen Wangen – in diesem Augenblick hatte er den Eindruck, als habe er
die Partie gewonnen, doch noch am selben Abend, und erst recht an den folgenden
Tagen, kamen ihm Zweifel. Es hätte nichts genutzt, seinen Vater anzurufen oder
ihn erneut zu besuchen – eher im Gegenteil, denn es bestand die Gefahr, ihn
dadurch vor den Kopf zu stoßen. Er stellte sich seinen Vater als jemanden vor,
der reglos auf einem Bergkamm stand und zögerte, auf welche Seite er sich
fallen lassen sollte. Es war die letzte wichtige Entscheidung, die er in seinem
Leben zu treffen hatte, und Jed befürchtete, dass er, wie er es früher bei Problemen
auf einer Baustelle stets getan hatte, wieder einmal beschließen würde, zum äußersten Mittel zu greifen .
    An den folgenden Tagen wurde er
immer unruhiger, er rechnete nun jeden Moment damit, einen Anruf von der
Leiterin des Seniorenheims zu bekommen: »Ihr Vater ist heute Morgen um zehn Uhr
nach Zürich gefahren. Er hat Ihnen einen Brief hinterlassen.« Als ihm daher
eine Frau am Telefon den Tod von Houellebecq mitteilte, begriff er nicht gleich
und glaubte an einen Irrtum. (Marilyn hatte ihren Namen nicht genannt, und er
hatte

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