Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
nie gegeben. »Ausnahmsweise ist
Frankreich mal ganz vorn«, hatte Lartigue bemerkt, um die Atmosphäre zu
entspannen, doch sein Versuch war elend gescheitert.
»Es tut mir leid«, sagte er, »mein
Büro ist im Moment besetzt. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Er ist nicht
schlecht, wir haben gerade eine neue Maschine bekommen.«
Zwei Minuten später kam er mit zwei
kleinen Pappbechern zurück, der Kaffee war tatsächlich ausgezeichnet. Es sei
unmöglich, sagte er zu Jed, eine ernsthafte polizeiliche Ermittlung
durchzuführen, wenn man keine ordentliche Kaffeemaschine habe. Dann bat er ihn,
seine Beziehung zum Opfer zu schildern. Jed erzählte die ganze Geschichte: die
geplante Ausstellung, das Vorwort zum Katalog, das Porträt, das er von dem
Schriftsteller gemalt hatte … Er bemerkte, wie sich das Gesicht seines
Gesprächspartners nach und nach immer mehr verfinsterte und wie dieser auf
seinem Plastikstuhl in sich zusammensank.
»Ich verstehe … Kurz gesagt, Sie waren
nicht wirklich miteinander befreundet«, fasste Jasselin die Situation zusammen.
Nein, befreundet nicht, stimmte ihm
Jed zu; aber er habe sowieso nicht den Eindruck, dass Houellebecq mit
irgendjemandem so etwas wie eine freundschaftliche
Beziehung unterhalten habe, zumindest nicht
in den letzten Jahren seines Lebens.
»Ja, ja …«, erwiderte Jasselin völlig
entmutigt. »Ich weiß nicht, wieso ich mir mehr erhofft hatte … Ich fürchte, ich
habe Sie umsonst hergebeten. Na gut, aber lassen Sie uns trotzdem in mein Büro
gehen, damit ich Ihre Aussage aufnehmen kann.«
Sein Arbeitstisch war fast völlig mit
Fotos vom Tatort übersät, die er an einem Großteil des Vormittags vielleicht
zum fünfzigsten Mal vergeblich unter die Lupe genommen hatte. Jed näherte sich
neugierig und nahm eines der Fotos in die Hand, um es genauer zu betrachten.
Jasselin gelang es nur halb, eine Geste der Überraschung zu unterdrücken.
»Entschuldigen Sie«, sagte Jed
verlegen. »Ich nehme an, ich habe nicht das Recht, mir das anzusehen.«
»Allerdings, im Prinzip unterliegen
sie dem Berufsgeheimnis. Aber tun Sie es ruhig, ich bitte Sie. Vielleicht sagen
Ihnen die Bilder ja etwas …«
Jed musterte mehrere Abzüge, die
Jasselin alle fast gleich vorkamen: geronnenes Blut, Fleischfetzen, ein
formloses Puzzle. »Seltsam«, sagte Jed schließlich. »Es sieht fast aus wie ein
Pollock, aber ein Pollock, der fast ausschließlich monochrom gestaltet ist. Das
hat er übrigens manchmal getan, aber nicht oft.«
»Und wer ist Pollock? Entschuldigen
Sie meinen Mangel an Bildung.«
»Jackson Pollock war ein
amerikanischer Maler der Nachkriegszeit. Ein Maler des Abstrakten
Expressionismus, sogar einer der Hauptvertreter dieser Stilrichtung. Er war
stark vom Schamanismus beeinflusst. Er ist 1956 gestorben.«
Jasselin betrachtete ihn plötzlich mit
neu erwachtem Interesse.
»Und was sind das für Fotos?«, fragte
Jed. »Ich meine, was stellen sie tatsächlich dar?«
Jasselin war über Jeds heftige
Reaktion überrascht. Er hatte gerade noch Zeit, einen Sessel heranzuziehen, in
den sich Jed zitternd und von Krämpfen geschüttelt sinken ließ. »Bleiben Sie
hier sitzen … Sie müssen unbedingt etwas trinken«, sagte Jasselin. Er eilte in
das Büro von Ferbers Team und kam mit einer Flasche Lagavulin und einem Glas
zurück. Es war unmöglich, eine ernsthafte polizeiliche Ermittlung
durchzuführen, wenn man nicht über einen Vorrat von hochwertigem Alkohol
verfügt, davon war er überzeugt, aber diesmal verzichtete er darauf, es laut zu
formulieren. Jed trank ein ganzes Glas mit tiefen Zügen, bis sein Zittern allmählich
nachließ. Jasselin zwang sich dazu, Geduld aufzubringen, und zügelte seine
Aufregung.
»Ich weiß, wie grässlich das ist«,
sagte er schließlich. »Es ist eines der grässlichsten Verbrechen, mit dem ich
je zu tun hatte. Glauben Sie …«, fuhr er behutsam fort, »… glauben Sie, dass
der Mörder von Jackson Pollock beeinflusst sein könnte?«
Jed schwieg ein paar Sekunden und
schüttelte ungläubig den Kopf, ehe er erwiderte: »Ich weiß nicht … Es erinnert
durchaus daran. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat es zahlreiche
Künstler gegeben, die ihren eigenen Körper für künstlerische Zwecke benutzt
haben, und manche Vertreter der Body Art haben sich tatsächlich auf Pollock berufen. Aber die
Körper anderer Menschen … Nur die Wiener Aktionisten haben in den sechziger Jahren
diese Grenze überschritten, doch das ist zeitlich sehr begrenzt
Weitere Kostenlose Bücher