Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
geblieben und
hat heutzutage keinerlei Einfluss mehr.«
»Ich weiß, dass Ihnen das absurd
erscheinen mag«, hakte Jasselin nach, »aber in der augenblicklichen Lage, in
der wir uns befinden … Ich dürfte Ihnen das eigentlich nicht sagen, aber wir
sind mit unseren Ermittlungen keinen Schritt weitergekommen, wir haben die
Leiche schon vor zwei Monaten gefunden und befinden uns noch immer in einer
totalen Sackgasse.«
»Wo ist denn das passiert?«
»Bei ihm zu Hause im Loiret.«
»Ach natürlich, ich hätte den
Teppichboden wiedererkennen müssen.«
»Sie haben ihn dort besucht? Im
Loiret?«
Diesmal gelang es ihm nicht, seine
Erregung zu verbergen. Jed war der erste von all den Zeugen, die sie befragt
hatten, der das Haus kannte, in dem Houellebecq gewohnt hatte. Selbst seine
Verlegerin war nie dort gewesen: Sie hatten sich immer in Paris getroffen.
»Ja, einmal«, erwiderte Jed ruhig. »Um
ihm sein Porträt zu bringen.«
Jasselin verließ sein Büro und rief
Ferber. Er gab ihm auf dem Flur eine kurze Zusammenfassung dessen, was er
gerade erfahren hatte.
»Das ist interessant«, sagte Ferber
nachdenklich. »Wirklich. Weitaus interessanter als all das, was wir seit dem
Beginn der Ermittlungen herausgefunden haben, wie mir scheint.«
»Aber wie sollen wir die Sache jetzt
weiterverfolgen?«, entgegnete Jasselin.
Sie setzten sich zu einer
improvisierten Besprechung in Ferbers Büro; Aurélie, Lartigue und Michel Khoury
nahmen daran teil. Messier war nicht da, er war mit einer anderen Untersuchung
beschäftigt, die ihn zu faszinieren schien – ein psychotischer Jugendlicher,
ein völlig zurückgezogener Computerfreak, hatte die Handlungsvorlagen für die
von ihm verübten Morde anscheinend im Internet gefunden. (Seine Mitarbeiter
interessierten sich allmählich nicht mehr ausschließlich für den Mord an
Houellebecq, sagte sich Jasselin traurig, sie begannen sich mit der Möglichkeit
eines Misserfolgs abzufinden.) Eine ganze Weile wurden die verschiedensten
Vorschläge gemacht – keiner von ihnen hatte die geringste Ahnung von Kunst –,
doch schließlich kam Ferber die rettende Idee: »Ich denke, wir sollten mit ihm
ins Loiret fahren, zum Tatort. Vielleicht entdeckt er etwas, das wir übersehen
haben.«
Jasselin warf einen Blick auf seine
Armbanduhr: Es war halb drei, die Essenszeit war schon lange vorbei – aber vor
allem wartete der Zeuge schon fast drei Stunden allein in seinem Büro.
Als er den Raum betrat, warf Jed ihm
einen zerstreuten Blick zu. Er schien sich überhaupt nicht zu langweilen: Er
saß am Schreibtisch des Hauptkommissars und betrachtete aufmerksam die Fotos.
»Wissen Sie«, sagte er schließlich, »das ist nur eine ziemlich schlechte
Imitation von Pollock. Die Formen und die auseinanderfließenden Farben haben
zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Bildern, aber die Anordnung ist völlig
mechanisch, da fehlen die Kraft und der Lebensdrang.«
Jasselin zögerte, er wollte ihn nicht
vor den Kopf stoßen. »Das ist mein Schreibtisch …«, sagte er schließlich, da
ihm nichts Besseres einfiel. »Oh, entschuldigen Sie!« Jed sprang auf und
überließ ihm den Platz, machte aber nicht gerade einen betretenen Eindruck.
Jasselin erklärte ihm seinen Plan. »Kein Problem«, erwiderte Jed sofort. Sie
einigten sich darauf, schon am folgenden Tag zu fahren, Jasselin würde seinen
Privatwagen nehmen. Als sie den Treffpunkt vereinbarten, stellten sie fest,
dass sie nur wenige hundert Meter voneinander entfernt wohnten.
»Ein komischer Typ …«, sagte sich
Jasselin, nachdem Jed fort war, und wie schon oft in der Vergangenheit dachte
er an all die Menschen, die ohne besonderen Grund und ohne gemeinsame
Interessen oder Belange gleichzeitig im Herzen derselben Stadt lebten und getrennte,
nicht vergleichbare Existenzen führten, auch wenn sich ihre Wege manchmal
aufgrund von Sex (immer seltener) oder aufgrund eines Verbrechens (immer öfter)
kreuzten. Aber zum ersten Mal rief dieser Gedanke – der ihn zu Beginn seiner
Laufbahn als Polizeibeamter fasziniert und angeregt hatte, sich eingehender
damit zu befassen, mehr darüber zu erfahren und dieser Art von menschlichen
Beziehungen auf den Grund zu gehen – in ihm nur noch vagen Überdruss hervor.
XII
O BGLEICH J ED NICHTS über Jasselins Leben wusste, überraschte es ihn kaum,
ihn am Steuer einer A-Klasse vorfahren zu sehen. Die A-Klasse von Mercedes ist
das ideale Auto für kinderlose, alte Ehepaare, die in der Stadt oder in einem
Vorort
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