Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Kaffee, und sie setzten sich an einen der etwa hundert freien
Tische.
Einige einleitende Worte erschienen
Jasselin unerlässlich. Er räusperte sich mehrmals. »Wissen Sie«, begann er
schließlich, »ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Bereitschaft, mich zu
begleiten. Niemand hätte Sie dazu zwingen können.«
»Ich finde es normal, der Polizei zu
helfen«, erwiderte Jed ernst.
»Tja.« Jasselin lächelte, ohne dass es
ihm gelang, bei seinem Gesprächspartner die gleiche Reaktion auszulösen. »Das
freut mich natürlich, denn längst nicht alle unserer Mitbürger sind dieser
Ansicht.«
»Ich glaube an das Böse«, fuhr Jed im
gleichen Ton fort. »Ich glaube an Schuld und Strafe.«
Jasselin traute seinen Ohren nicht. Er
hatte nicht erwartet, dass das Gespräch diese Wendung nehmen würde.
»Glauben Sie an den exemplarischen
Charakter von Strafen?«, fragte er, um Jed zu ermutigen. Eine Angestellte in
relativ hohem Alter, die zwischen den Tischen den Boden aufwischte, näherte
sich ihnen und warf ihnen unwirsche Blicke zu. Sie schien nicht nur erschöpft
und entmutigt, sondern voller Erbitterung über die ganze Welt zu sein, sie
wrang den Putzlappen über ihrem Eimer in einer Weise aus, als ließe sich für
sie die Welt darin zusammenfassen: eine zweifelhafte, von Schmutzschichten
aller Art bedeckte Oberfläche.
»Ich weiß nicht so recht«, erwiderte
Jed nach einer Weile. »Ehrlich gesagt habe ich mir diese Frage nie gestellt.
Strafen erscheinen mir gerecht, weil sie normal und notwendig sind, weil es
normal ist, dass der Schuldige bestraft wird, um das Gleichgewicht wieder
herzustellen, und weil es notwendig ist, dass das Böse bestraft wird. Warum?
Glauben Sie etwa nicht daran?«, fuhr er leicht aggressiv fort, als er merkte,
dass sein Gesprächspartner stumm blieb. »Dabei ist das doch Ihr Beruf.«
Jasselin fand seine Beherrschung
wieder und erklärte ihm, das sei vielmehr Aufgabe des Richters , dem eine Jury zur Seite stand. Dieser
Typ, dachte er, würde einen unerbittlichen Geschworenen abgeben. Es gebe die Gewaltenteilung , sagte er nachdrücklich,
das sei eine der Grundlagen der Verfassung. Jed nickte schnell, um zu zeigen,
dass er begriffen hatte, dass ihm das aber nebensächlich erschien. Jasselin
spielte mit dem Gedanken, eine Diskussion über die Todesstrafe zu beginnen,
ohne einen richtigen Grund, nur aus Vergnügen an einem Gespräch, doch dann
verzichtete er darauf; er hatte wirklich Mühe, sich über diesen Typen schlüssig
zu werden. Sie verstummten beide wieder eine Weile.
»Ich habe Sie auch aus anderen, eher
persönlichen Gründen begleitet«, nahm Jed den Faden wieder auf. »Ich will, dass
Houellebecqs Mörder gefasst und bestraft wird. Das ist mir sehr wichtig.«
»Aber Sie waren doch gar nicht
wirklich befreundet.« Jed gab ein schmerzliches Knurren von sich, und Jasselin
begriff, dass er ungewollt einen empfindlichen Punkt berührt hatte. Ein ziemlich
dicker Mann, der einen verschlissenen grauen Anzug trug, ging, einen Teller
Pommes frites in der Hand, in einem Abstand von wenigen Metern an ihnen vorbei.
Er wirkte wie ein Handelsvertreter und schien am Ende seiner Kräfte zu sein.
Ehe er sich setzte, legte er die Hand auf die Brust und blieb einen Moment
reglos stehen, als rechne er jeden Augenblick mit einem Herzanfall.
»Die Welt ist schlecht«, sagte Jed
schließlich. »Und derjenige, der diesen Mord begangen hat, hat sie noch
schlechter gemacht.«
XIII
A LS SIE IN S OUPPES EINTRAFEN (das war der Name
des Dorfes, in dem der Schriftsteller seine letzten Jahre verbracht hatte),
stellten sie beide etwa im gleichen Moment die Überlegung an, dass sich nichts
verändert hatte. Es gab im Übrigen auch keinen Grund, weshalb sich etwas hätte
ändern sollen: Das Dorf war in seiner für touristische Zwecke ländlichen
Vollkommenheit erstarrt, und daran würde sich bis auf das Hinzukommen von ein
paar unauffälligen Elementen wie Internet-Terminals und Parkplätzen zur
Verbesserung der Lebensqualität jahrhundertelang nichts ändern; doch es konnte nur
dann in diesem Zustand erhalten bleiben, wenn eine intelligente Gattung für die
Instandhaltung sorgte und es vor dem Einwirken der Elemente sowie der
zerstörerischen Kraft der Pflanzen schützte.
Das Dorf war auch noch ebenso
menschenleer – eine friedliche, strukturbedingte Leere. Genau so, sagte sich
Jed, würde die Welt nach der intergalaktischen Explosion einer Neutronenbombe
aussehen. Die außerirdischen Wesen könnten dann die
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