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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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leben, es sich aber nicht nehmen lassen, sich hin und wieder eine
Eskapade in einem Romantikhotel zu gönnen; auch junge Paare mit konservativer
Einstellung können diese Wahl treffen – in diesem Fall ist es meistens ihr
erster Mercedes. Dieser Wagen aus der preiswertesten Klasse der Firma mit dem
Stern fällt ein wenig aus der Reihe, die Limousinen der C-Klasse und der
E-Klasse entsprechen eher den Vorstellungen, die die klassische Käuferschicht
mit einem Mercedes verbindet. Mercedes-Fahrer sind im Allgemeinen Menschen, die
sich nicht sonderlich für Autos interessieren und Sicherheit sowie Komfort dem Fahrerlebnis vorziehen – und
die natürlich über entsprechend hohe Einkünfte verfügen. Seit über fünfzig
Jahren ist die Bourgeoisie der ganzen Welt – trotz der eindrucksvollen
wirtschaftlichen Schlagkraft von Toyota und der Hartnäckigkeit von Audi – Mercedes
treu geblieben.
    Der Verkehr auf der Südautobahn war
flüssig, und sie schwiegen beide. Nach einer halben Stunde sagte sich Jasselin,
er müsse das Eis brechen , denn es war wichtig, dem Zeugen die Befangenheit zu
nehmen, das hatte er bei seinen Vorträgen in Saint-Cyr-au-Mont-d’Or oft genug
hervorgehoben. Jed war völlig geistesabwesend, tief in Gedanken versunken –
oder vielleicht einfach im Begriff einzunicken. Dieser Typ erweckte seine
Neugier und beeindruckte ihn ein wenig. Er musste allerdings zugeben, dass er
während seiner Laufbahn als Kriminalbeamter im Wesentlichen nur Verbrecher kennengelernt
hatte, also engstirnige, schlechte Menschen, die unfähig waren, neue Gedanken
zu entwickeln, und nur in den seltensten Fällen überhaupt so etwas wie einen
Gedanken kannten, degenerierte Tiere, die man in ihrem eigenen Interesse und
dem der anderen sowie dem der gesamten Menschheit am besten gleich nach ihrer
Verhaftung zur Strecke bringen sollte, zu dieser Ansicht kam er zumindest mehr
und mehr. Nun ja, aber das war nicht seine Angelegenheit, das war Sache der Richter . Seine Aufgabe
bestand darin, das Wild aufzuspüren und zu fangen, um es anschließend den
Richtern und allgemeiner ausgedrückt dem französischen
Volk (in dessen Namen sie, zumindest der
üblichen Formel zufolge, handelten) vor die Füße zu legen. Im Rahmen einer Jagd
war das zu Füßen des Jägers niedergelegte Wild meistens tot – es hatte sein
Leben im Verlauf der Jagd verloren, eine gut platzierte Kugel hatte das Tier
erlegt, manchmal hatten die Zähne der Hunde die Arbeit vollendet. Im Rahmen
einer polizeilichen Ermittlung war der zu Füßen des Richters niedergelegte
Schuldige einigermaßen lebendig – was Frankreich erlaubte, in den regelmäßig
von Amnesty International veröffentlichten Berichten über die Situation der
Menschenrechte weiterhin eine gute Note zu erhalten. Der Richter – der dem französischen Volk unterstand,
das er im Allgemeinen vertrat und dem er sich bei schweren Verbrechen, die von
einer Geschworenenjury geahndet wurden, tatsächlich unterwerfen musste, was auf
die Strafsachen aus Jasselins Arbeitsgebiet fast immer zutraf – musste dann
über sein Schicksal entscheiden. Verschiedene internationale Abkommen
untersagten es (selbst für den Fall, dass sich das französische
Volk mehrheitlich dafür ausgesprochen
hätte), ihn zu töten.
    Als sie die Mautstelle von
Saint-Arnoult-en-Yvelines hinter sich gelassen hatten, schlug er Jed vor, eine
kurze Pause einzulegen, um einen Kaffee zu trinken. Die Raststätte machte einen
zwiespältigen Eindruck auf Jasselin. Einerseits war ein deutlicher Bezug zur
Nähe von Paris erkennbar: Es gab ein breites Sortiment an Zeitschriften und
überregionalen Tageszeitungen – das rasch abnahm, sobald man tiefer in die
Provinz vordrang –, und die Andenken, die man den Autofahrern anbot, waren im
Wesentlichen Nachbildungen von Eiffelturm und Sacré Cœur in allen erdenklichen
Varianten. Andererseits konnte man schlecht so tun, als befinde man sich noch
in einem Pariser Vorort: Die Mautstelle sowie die jenseits dieser Zone nicht
mehr gültige Carte Orange des Pariser Verkehrsmittelverbunds waren ein
symbolisches Kennzeichen für das Ende der Vororte und den Beginn der Regionen ; im Übrigen wurden hier
die ersten Regionalerzeugnisse angeboten (Honig aus dem Gâtinais,
Kaninchen-Rilletten). Kurz gesagt, in dieser Autobahnraststätte war alles
darauf angelegt, sich nicht für das eine oder andere Lager entscheiden zu
müssen, und das gefiel Jasselin nicht sonderlich. Dennoch nahm er sich ein
Brownie zu seinem

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