Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
ruhigen, gepflegten Straßen
des kleinen Marktfleckens besuchen und sich an dessen gemäßigter Schönheit
erfreuen. Falls es sich um Wesen mit einem gewissen, und sei es nur elementaren
Sinn für Ästhetik handelte, würden sie rasch die Notwendigkeit der Instandhaltung
begreifen und die erforderlichen Restaurierungsarbeiten vornehmen; das war eine
beruhigende und zugleich wahrscheinliche Hypothese.
Jasselin stellte seinen Mercedes
vor dem Langhaus ab. Jed stieg aus, und in der Kälte, die ihm entgegenschlug, fiel
ihm plötzlich sein erster Besuch wieder ein, der Hund, der zur Begrüßung an ihm
hochgesprungen und hin und her gelaufen war. Er stellte sich den Kopf des
enthaupteten Hundes sowie den seines enthaupteten Herrn vor, wurde sich erst
dadurch des grässlichen Verbrechens bewusst und bedauerte es kurz, hergekommen
zu sein. Doch dann fasste er sich wieder, denn er hatte den Wunsch, sich
nützlich zu machen, schon sein ganzes Leben lang hatte er den Wunsch gehabt,
sich nützlich zu machen, und mehr denn je, seit er reich war. Hier ergab sich
diese Gelegenheit, das ließ sich nicht leugnen, er konnte dazu beitragen, dass
ein Mörder gefasst und unschädlich gemacht wurde, und er konnte auch diesem
alten, entmutigten, mürrischen Kriminalbeamten helfen, der inzwischen mit
leicht besorgter Miene neben ihm stand und sich reglos im winterlichen Licht
bemühte, ruhig zu atmen.
Sie hatten ausgezeichnete Arbeit
geleistet, um den Tatort zu säubern, sagte sich Jasselin beim Betreten des
Wohnzimmers und stellte sich seine Kollegen vor, wie sie Stück für Stück die verstreuten
Fleischstücke aufsammelten. Auf dem Teppichboden waren nicht einmal mehr
Blutspuren zu erkennen, nur hier und dort ein paar helle abgenutzte Stellen.
Abgesehen davon hatte sich auch das Haus nicht im Geringsten verändert, er
erkannte die Anordnung der Möbel sofort wieder. Er setzte sich auf ein Sofa und
zwang sich, Jed nicht anzublicken. Man muss den Zeugen in Ruhe lassen, man muss
seine spontanen Reaktionen respektieren, seine Emotionen oder möglichen Eingebungen
nicht im Keim ersticken, man muss sich ganz in seinen Dienst stellen, damit er
sich anschließend in den Dienst der Sache stellt.
Tatsächlich war Jed auf eines der
Schlafzimmer zugegangen und begann das ganze Haus zu besichtigen. Jasselin
bedauerte, dass er Ferber nicht mitgenommen hatte: Der war ein empfindsamer
Mensch, ein empfindsamer Kriminalbeamter , er hätte es verstanden, mit einem Künstler umzugehen
– während er selbst nur ein gewöhnlicher, alter Beamter war, der
leidenschaftlich an seiner alternden Frau und an seinem impotenten kleinen Hund
hing.
Jed ging weiterhin von Raum zu Raum
und kam in regelmäßigen Abständen ins Wohnzimmer zurück, er vertiefte sich in
die Betrachtung der Bibliothek, deren Inhalt ihn noch stärker als bei seinem
ersten Besuch erstaunte und beeindruckte. Dann blieb er vor Jasselin stehen,
der zusammenzuckte und mit einem Satz aufsprang.
Dabei hatte Jeds Haltung nichts
Beunruhigendes; er stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen da wie ein
Schüler, der sich anschickt, seine Lektion aufzusagen.
»Mein Bild fehlt«, sagte er
schließlich.
»Ihr Bild? Was für ein Bild?«, fragte
Jasselin fieberhaft, und dabei war ihm klar, dass er das wissen müsste, dass er
das eigentlich wissen müsste und dass er wohl nicht ganz im Besitz all seiner geistigen
Fähigkeiten war. Ihn überlief ein Schauer; vielleicht brütete er eine Grippe
oder noch etwas Schlimmeres aus.
»Das Bild, das ich von ihm gemalt und
das ich ihm geschenkt habe. Es ist nicht mehr da.«
Jasselin brauchte eine Weile, um diese
Information zu verdauen, sein Gehirn arbeitete im Zeitlupentempo, er fühlte
sich immer elender, er war todmüde, dieser Fall ermüdete ihn in höchstem Maße,
und es dauerte unglaublich lange, ehe er die entscheidende, einzig richtige
Frage stellte: »War es viel wert?«
»Ja, ziemlich viel«, erwiderte Jed.
»Wie viel?« Jed dachte ein paar
Sekunden nach, ehe er antwortete: »Derzeit steigen die Preise meiner Bilder
etwas, wenn auch nur langsam. Ich würde sagen neunhunderttausend Euro.«
»Was? Was haben Sie da gesagt?«
Jasselin hatte fast geschrien.
»Neunhunderttausend Euro.«
Jasselin ließ sich auf das Sofa
fallen, blieb reglos und zusammengesunken sitzen und murmelte nur ab und zu ein
paar unverständliche Worte.
»Hilft Ihnen das weiter?«, fragte Jed
zögernd.
»Der Fall ist geklärt.« Seine Stimme
klang mutlos und furchtbar
Weitere Kostenlose Bücher