Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
traurig. »Es hat schon Morde gegeben wegen
fünfzigtausend, zehntausend, manchmal sogar nur tausend Euro. Aber
neunhunderttausend Euro, da ist die Sache klar …«
Kurz darauf stiegen sie in den
Wagen, um nach Paris zurückzufahren. Jasselin bat Jed, sich ans Steuer zu
setzen, da er sich unwohl fühle. Sie machten an derselben Raststätte Halt wie auf
der Hinfahrt. Ohne ersichtlichen Grund waren mehrere Tische mit einem
rot-weißen Plastikband abgesperrt – vielleicht war der dicke Handelsvertreter
von vor ein paar Stunden doch noch einem Herzinfarkt erlegen. Jed nahm wieder
einen Kaffee; Jasselin wollte etwas Alkoholisches, aber das verkauften sie nicht.
In der Abteilung für Regionalerzeugnisse des Tankstellen-Shops entdeckte er
schließlich eine Flasche Rotwein, doch sie hatten keinen Korkenzieher. Er ging
zu den Toiletten, schloss sich in einer Kabine ein, zertrümmerte den
Flaschenhals mit einem kurzen, heftigen Schlag auf dem Rand der Kloschüssel und
kam mit der geköpften Flasche wieder in die Cafeteria zurück; ein paar Tropfen
Wein waren auf sein Oberhemd gespritzt. All das hatte ein wenig Zeit in
Anspruch genommen, und Jed war aufgestanden und betrachtete verträumt die gemischten
Salate. Schließlich entschied er sich für ein Club-Sandwich mit Pute und
Cheddar und eine Sprite. Jasselin hatte sich das erste Glas eingeschenkt und in
einem Zug geleert. Ein wenig aufgemuntert beendete er inzwischen etwas
langsamer sein zweites. »Wenn ich Sie so essen sehe, kriege ich auch Appetit«,
sagte er. Er stand auf, um sich einen provenzalischen Wrap zu holen, und
schenkte sich dann das dritte Glas ein. Im gleichen Augenblick stürmte eine
Gruppe von spanischen Jugendlichen, die gerade aus einem Bus gestiegen waren,
lärmend in die Cafeteria. Die Mädchen waren völlig aus dem Häuschen und schrien
durcheinander, ihr Hormonspiegel musste unglaublich hoch sein. Die Gruppe
befand sich wohl auf einer Klassenfahrt und hatte vermutlich den Louvre, das
Centre Pompidou und ähnliche Sehenswürdigkeiten besichtigt. Jasselin
erschauerte bei dem Gedanken, dass er zum gegenwärtigen Zeitpunkt Vater eines
etwa gleichaltrigen Kindes sein könnte.
»Sie haben gesagt, der Fall sei
geklärt«, bemerkte Jed. »Aber Sie haben den Mörder noch nicht gefunden.«
Er erklärte ihm, dass der Diebstahl
von Kunstgegenständen ein ganz spezifischer Bereich sei, der von der eigens
dafür eingerichteten Zentralstelle zur Bekämpfung des illegalen Handels mit
Kunstgegenständen bearbeitet werde. Selbstverständlich würden sie selbst
weiterhin mit den Ermittlungen beauftragt bleiben, immerhin handele es sich ja
um einen Mord, aber entscheidende Fortschritte könne man jetzt nur von dieser
Behörde erwarten. Nur wenige Menschen wüssten, wo die Kunstwerke aufzutreiben
seien, wenn sie sich im Privatbesitz eines Sammlers befänden, und Leute, die
sich ein Bild für eine Million Euro leisten könnten, seien noch seltener, mehr
als zehntausend weltweit dürften es kaum sein.
»Ich nehme an, Sie können eine genaue
Beschreibung des Gemäldes geben.«
»Selbstverständlich, ich habe eine
ganze Reihe Fotos davon.«
Sein Gemälde werde sofort in die
französische Datenbank für gestohlene Kunstwerke TREIMA aufgenommen, die bei jeder Transaktion von über
fünfzigtausend Euro konsultiert werden müsse; die Nichtbeachtung dieser Auflage
werde schwer geahndet, sagte er, der Verkauf gestohlener Kunstgegenstände sei
dadurch immer schwieriger geworden. Ein rituelles Verbrechen zu inszenieren, um
einen Diebstahl zu verschleiern, sei im Übrigen eine geniale Idee, und ohne
Jeds Eingreifen wären sie noch immer im Dunkeln getappt. Aber nun würde sich
alles ändern. Früher oder später werde das Bild auf dem Markt auftauchen, und
dann sei es leicht, die Spur zurückzuverfolgen.
»Und trotzdem machen Sie nicht den
Eindruck, sich darüber zu freuen«, sagte Jed.
»Das stimmt«, gab Jasselin zu und
leerte den Rest der Flasche. Anfangs habe es so ausgesehen, als sei es ein zwar
ungemein grauenhaftes, aber zumindest sehr ungewöhnliches Verbrechen. Es habe
sich um eine im Affekt begangene Tat, eine Krise religiösen Wahns oder
Ähnliches handeln können. Es sei irgendwie deprimierend, dass es letztlich doch
wieder auf die am weitesten verbreitete, universelle Motivation hinauslaufe:
das Geld. Im nächsten Jahr könne er auf eine dreißigjährige Laufbahn im
Polizeidienst zurückblicken. Wie viele Male habe er es in dieser Zeit mit einem
Verbrechen zu tun
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