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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Betracht zog,
ein guter Kriminalbeamter gewesen war. Und das stimmte durchaus, er meinte
auch, dass er die meiste Zeit ein ehrbarer oder zumindest hartnäckiger
Kriminalbeamter gewesen war, und die Hartnäckigkeit ist letztlich vielleicht
die einzige menschliche Eigenschaft, die nicht nur für den Beruf eines
Polizeibeamten, sondern für viele Berufe eine wichtige Voraussetzung ist,
zumindest für all jene, in denen der Begriff Wahrheit eine Rolle spielt.
    Ein paar Tage vor seinem tatsächlichen
Ausscheiden lud er Ferber zum Mittagessen in ein kleines Restaurant an der
Place Dauphine ein. Es war Montag, der 30. April, viele Leute hatten sich den
Tag freigenommen, um sich ein verlängertes Wochenende zu gönnen. Paris war sehr
ruhig, und es befanden sich nur einige Touristenpaare im Restaurant. Der
Frühling war tatsächlich zu spüren, die Knospen waren aufgegangen, Pollen- und
Staubkörnchen tanzten im Licht. Sie hatten sich an einen Tisch auf der Terrasse
gesetzt und bestellten sich beide vor dem Essen einen Pastis.
    »Weißt du«, sagte Jasselin, als der
Ober die Gläser vor sie auf den Tisch stellte, »ich habe in diesem Fall
wirklich Scheiße gebaut, von Anfang bis Ende. Wenn diesem Typen nicht
aufgefallen wäre, dass sein Gemälde fehlte, würden wir noch immer im Dunkeln
tappen.«
    »Du solltest nicht so streng mit dir
sein, schließlich hast du doch die Idee gehabt, ihn an den Tatort mitzunehmen.«
    »Nein, Christian«, erwiderte Jasselin
behutsam. »Du hast es vielleicht vergessen, aber das war deine Idee.«
    »Ich bin zu alt«, fuhr er ein wenig
später fort. »Ich bin einfach zu alt für diesen Beruf. Im Lauf der Jahre rostet
das Gehirn ein wie alles andere, sogar noch schneller als alles andere, wie mir
scheint. Der Mensch war ursprünglich nicht darauf geeicht, achtzig oder hundert
Jahre alt zu werden, sondern höchstens fünfunddreißig oder vierzig wie in
prähistorischen Zeiten. Einige Organe halten gut, sogar erstaunlich gut durch,
und andere verkümmern langsam oder auch schnell.«
    »Und was hast du jetzt vor?«, fragte
Ferber in dem Versuch, das Thema zu wechseln. »Bleibst du in Paris?«
    »Nein, ich lasse mich in der Bretagne
nieder. In dem Haus, in dem meine Eltern gelebt haben, ehe sie nach Paris
gezogen sind.« Er musste allerdings das Haus noch gründlich renovieren lassen,
ehe er an einen Umzug denken konnte. Es war schon erstaunlich, sagte sich
Jasselin, dass all diese Menschen vor noch gar nicht allzu langer Zeit – seine
eigenen Eltern sogar noch bis vor wenigen Jahren – einen Großteil ihres Lebens
unter Bedingungen verbracht hatten, die heutzutage völlig unzumutbar erschienen:
weder Badewanne noch Dusche und keine richtig wirksame Heizmöglichkeit. Hélène
musste sowieso noch bis Ende des Semesters unterrichten, der Umzug konnte
vermutlich erst nach Ablauf des Sommers stattfinden. Er sei im Übrigen kein
großer Hobbybastler, sagte er zu Ferber, Gartenarbeit dagegen verrichte er
gern, er freue sich schon darauf, einen Gemüsegarten anzulegen.
    »Und dann«, sagte er mit einem
verkniffenen Lächeln, »habe ich vor, Kriminalromane zu lesen. Das habe ich
während meiner ganzen Dienstjahre fast nie getan, doch jetzt möchte ich es
versuchen. Aber ich habe keine Lust auf amerikanische Krimis, ich habe nur den
Eindruck, dass es kaum etwas anderes gibt. Kannst du mir nicht einen französischen
Autor empfehlen?«
    »Jonquet«, erwiderte Ferber, ohne zu
zögern. »Thierry Jonquet. In Frankreich ist er meiner Ansicht nach der Beste.«
    Während sich Jasselin den Namen in
sein Notizbuch schrieb, brachte ihm der Ober eine Seezunge nach Müllerin Art.
Das Restaurant war gut, sie sprachen ziemlich wenig, aber er freute sich
darüber, noch ein letztes Mal mit Ferber zusammen zu sein, und er war ihm
dankbar, dass dieser keine abgedroschenen Phrasen über die Möglichkeit, sich
wiederzusehen und Kontakt zu halten, von sich gab. Er würde sich auf dem Land
niederlassen, und Ferber würde in Paris bleiben und ein guter Kriminalbeamter
werden, ein sehr guter sogar, vermutlich würde er gegen Ende des Jahres zum
Oberkommissar und später zum Hauptkommissar befördert werden; aber sie würden
sich vermutlich nie wiedersehen.
    Sie blieben noch eine Weile in
diesem Restaurant, alle Touristen waren inzwischen fort. Jasselin beendete
seinen Nachtisch – eine Charlotte mit kandierten Maronen. Ein durch die
Platanen fallender Sonnenstahl tauchte den Platz in herrliches Licht.
    »Christian«, sagte er nach

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