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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Wagen seines Opfers gestohlen, anstatt sich ein Taxi zu bestellen,
wie er es bei der Hinfahrt getan habe. Und so ging seine Verbrecherlaufbahn auf
ebenso dumme und gewalttätige Weise zu Ende, wie sie seit jeher verlaufen war.
    Die Beamten der Nizzaer
Kriminalpolizei übernahmen den Fall und fuhren zur Villa von Adolphe Petissaud,
dem Chirurgen aus Cannes. Er wohnte auf einer Anhöhe am Stadtrand in der Avenue
de la Californie und besaß 80 Prozent einer Privatklinik, die auf
plastische und rekonstruktive Chirurgie für männliche Patienten spezialisiert
war. Er lebte allein und war sichtlich wohlhabend. Rasen und Swimmingpool waren
äußerst gepflegt, und das Haus mochte etwa zehn Zimmer haben.
    Die Untersuchung der Räume im
Erdgeschoss und im ersten Stock brachte die Beamten nicht viel weiter. Es war
der herkömmliche, vorhersehbare Lebensrahmen eines nicht sonderlich
kultivierten, hedonistischen Großbürgers, der gegenwärtig mit zertrümmertem
Schädel in einer Blutlache auf dem Wohnzimmerteppich lag. Le Braouzec hatte
vermutlich die Wahrheit gesagt: Es hatte zwischen ihnen eine simple
geschäftliche Verhandlung stattgefunden, die eine dramatische Wendung genommen
hatte, der Tatbestand der vorsätzlichen Tötung war nicht erfüllt. Dennoch würde
er vermutlich mindestens zehn Jahre hinter Gittern verbringen.
    Das Untergeschoss sollte ihnen jedoch
eine echte Überraschung vorbehalten. Das Team bestand fast nur aus erfahrenen,
abgehärteten Beamten aus dem Nizzaer Raum, der seit langem für eine hohe und
seit dem Auftauchen der russischen Mafia noch höhere Kriminalitätsrate bekannt
war; aber weder Oberkommissar Bardèche, der die Untersuchung leitete, noch
einer seiner Untergebenen hatte so etwas je gesehen.
    Der Raum von zwanzig mal zehn Metern
war an allen vier Wänden mit zwei Meter hohen Glasschränken möbliert. Im Inneren
dieser Schränke reihten sich, von Spots beleuchtet, in regelmäßigen Abständen
abscheuliche menschliche Schimären aneinander. Oberkörper mit darauf
verpflanzten Geschlechtsorganen, Nasen, die mit den winzigen Armen von Föten
rüsselförmig verlängert waren. Andere Kompositionen bestanden aus Köpfen mit
verzerrtem Gesichtsausdruck, die von einem Gewirr aus aneinandergefügten,
miteinander vernähten, verflochtenen menschlichen Gliedern umgeben waren. All
diese Gebilde waren durch Konservierungsmethoden, die den Beamten unbekannt
waren, so gut erhalten, dass sie unerträglich realistisch wirkten: Die mit
Schnittwunden verunstalteten Gesichter, deren Augäpfel häufig ausgeschält
waren, trugen einen Ausdruck von erstarrtem, furchtbarem Schmerz, Kronen aus geronnenem
Blut umgaben die Amputationen. Petissaud war ein Mensch mit zutiefst abartiger
Veranlagung, dessen Perversion ein ungewöhnliches Niveau erreichte, und man
musste davon ausgehen, dass es Mitschuldige gab, illegalen Handel mit Leichen
und vermutlich mit Föten, all das würde lange Ermittlungen erfordern, sagte
sich Bardèche, während einer seiner jungen Kollegen, ein Kriminalmeister, der
gerade in sein Team aufgenommen worden war, ohnmächtig wurde und anmutig wie
eine geschnittene Blume ein paar Meter neben ihm zu Boden sank.
    Er dachte auch flüchtig daran, dass
sich das für Le Braouzec nur positiv auswirken konnte: Ein guter Anwalt würde
diese Tatsache ohne Mühe ausnutzen können, um den abgrundtief perversen
Charakter des Opfers vor Augen zu stellen, das würde sicherlich die
Entscheidung der Geschworenen beeinflussen.
    Mitten im Raum befand sich ein
riesiger Leuchttisch von mindestens fünf mal zehn Metern. Im Inneren wimmelte es
von Insekten, die nach Arten gruppiert und von durchsichtigen Wänden
voneinander getrennt waren. Als ein Beamter versehentlich einen der
Bedienungshebel auf dem Tischrand betätigte, öffnete sich eine Trennwand, und
sogleich rannte ein Dutzend Vogelspinnen mit behaarten Beinen in das
Nachbarabteil und fiel über die darin befindlichen Insekten her: große rötliche
Tausendfüßler. Damit verbrachte also Dr. Petissaud seine Abende, anstatt, wie
die Mehrzahl seiner Kollegen, in harmlosen Orgien mit slawischen Prostituierten
Zerstreuung zu suchen. Er hielt sich ganz einfach für Gott, und er behandelte seine
Insektenvölker wie Gott die menschlichen Völker.
    Bei diesem Stand der Dinge hätten sie
es vermutlich bewenden lassen, wenn nicht Le Guern, ein junger bretonischer
Kriminalmeister, den Bardèche nach dessen vor kurzem erfolgter Versetzung nach
Nizza freudig in sein Team

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