Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
unpersönliches Wohnviertel einer
Vorstadt vor sich liegen sah. Aus den unter der Decke angebrachten
Lautsprechern ertönte traurige Musik, die aber immerhin die Bezeichnung würdevoll verdiente –
vermutlich Samuel Barber.
Die fünf Personen im Wartesaal waren
zweifellos Selbstmordanwärter , aber Jed hatte Mühe, sie darüber hinaus zu
charakterisieren. Selbst ihr Alter war schwer zu bestimmen, vermutlich lag es
zwischen fünfzig und siebzig – sie waren also nicht sehr alt, sein Vater dürfte
bei seinem Aufenthalt wohl der älteste Selbstmordkandidat des Tages gewesen
sein. Ein Mann mit weißem Schnurrbart und hochroter Gesichtsfarbe war ganz
offensichtlich Engländer, aber die anderen ließen sich nur schwer einschätzen,
sogar was ihre Staatsangehörigkeit anging. Ein südländisch wirkender,
abgezehrter Mann mit bräunlichgelber Gesichtsfarbe und furchtbar hohlen Wangen
– der Einzige, der tatsächlich den Eindruck machte, an einer schweren Krankheit
zu leiden – las mit großer Hingabe (er hatte bei Jeds Ankunft nur kurz den Kopf
gehoben und sich dann sofort wieder in die Lektüre vertieft) eine spanische
Ausgabe von Spirou & Fantasio ; er stammte vermutlich aus irgendeinem
südamerikanischen Land.
Jed zögerte und wandte sich
schließlich an eine Frau in den Sechzigern, die das typische Aussehen einer
Hausfrau aus dem Allgäu hatte und den Eindruck vermittelte, im Stricken
außerordentlich bewandert zu sein. Sie teilte ihm mit, dass es tatsächlich ein
Empfangszimmer gebe, er brauche nur auf den Treppenflur zu gehen, es sei die
linke Tür.
Jed öffnete die linke Tür, auf der
sich kein Schild befand. Eine junge, ganz ansprechende Frau (in der FKK -Relax-Oase Babylon waren die Mädels bestimmt noch viel hübscher, sagte er
sich) saß hinter einem Empfangsschalter und war über ein Kreuzworträtsel
gebeugt, das ihr offensichtlich großes Kopfzerbrechen bereitete. Jed erklärte
ihr sein Anliegen, das sie zu schockieren schien: Familienangehörige kämen
nicht nach dem Tod, entgegnete sie ihm. Manchmal vorher, aber nie hinterher. » Sometimes before … never after … «, wiederholte sie mehrere Male mit entsetzlich schleppender Stimme. Diese
Zicke begann ihn zu nerven, er wurde lauter und sagte noch einmal, dass er
nicht früher habe kommen können und unbedingt jemanden von der Geschäftsleitung
sprechen wolle, schließlich habe er das Recht, die Akte seines Vaters
einzusehen. Das Wort Recht schien sie zu beeindrucken, mit sichtlichem
Widerwillen griff sie zum Telefonhörer. Ein paar Minuten später betrat eine
etwa vierzigjährige Frau in hellem Kostüm den Raum. Sie habe sich die Akte
angesehen: Sein Vater habe tatsächlich am Vormittag des 10. Dezember bei ihnen
vorgesprochen; die Prozedur sei ganz normal verlaufen, fügte sie hinzu.
Er musste am Sonntag, dem 9. Dezember,
abends in Zürich eingetroffen sein, sagte sich Jed. Wo hatte er seine letzte
Nacht verbracht? Hatte er sich das Hotel Baur au Lac geleistet? Er hoffte es, auch wenn er es eher
bezweifelte. Er war sich auf jeden Fall sicher, dass sein Vater vor dem
Weggehen die Rechnung bezahlt hatte und dass nichts mehr offenstand .
Jed ließ nicht locker, er flehte sie
an. Er sei zum besagten Zeitpunkt auf Reisen gewesen, behauptete er, und habe
nicht da sein können, aber jetzt wolle er mehr darüber wissen, alle
Einzelheiten über die letzten Augenblicke seines Vaters erfahren. Sichtlich
gereizt gab die Frau schließlich nach und forderte ihn auf, sie zu begleiten.
Er folgte ihr auf einen langen, dunklen Flur, auf dem sich Metallschränke mit
Aktenordnern aneinanderreihten, bevor sie in ihr helles, funktional
eingerichtetes Büro gelangten, das auf einen kleinen Park hinausging.
»Hier ist die Akte Ihres Vaters«,
sagte sie und hielt ihm einen dünnen Ordner hin. Das Wort Akte kam ihm leicht
übertrieben vor: Es handelte sich um ein beidseitig beschriebenes, auf Deutsch
abgefasstes Blatt Papier.
»Ich verstehe kein Wort … Ich müsste
es übersetzen lassen.«
»Was wollen Sie eigentlich?« Sie
verlor allmählich die Geduld. »Ich sage Ihnen doch, dass alles in Ordnung ist!«
»Ich nehme an, dass es eine ärztliche
Untersuchung gegeben hat, nicht wahr?«
»Selbstverständlich.«
Nach dem, was Jed in verschiedenen
Artikeln gelesen hatte, beschränkte sich die ärztliche Untersuchung auf das
Messen des Blutdrucks und ein paar belanglose Fragen, also gewissermaßen auf
ein Motivationsgespräch , mit dem Unterschied jedoch, dass jeder
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