Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
ihm dieser – ein Mann in den Fünfzigern, der Englisch mit
einem schweren schweizerdeutschen Akzent sprach – ab und zu im Rückspiegel
einen anzüglichen, belustigten Blick zu, der wenig zu der Vorstellung eines würdigen Todes passte. Jed
begriff den Sinn der Blicke erst, als das Taxi zu Beginn der Ifangstraße vor
einem riesigen neobabylonischen Gebäude hielt, dessen Eingang, zu dem ein mit
Topfpalmen gesäumter, verschlissener roter Teppich führte, mit kitschigen erotischen
Fresken verziert war: Es handelte sich ganz offensichtlich um ein Bordell. Jed war
zutiefst erleichtert, dass man ihn gedanklich mit einem Bordell in Verbindung
gebracht hatte und nicht mit einer Organisation, die sich der Sterbehilfe
widmete. Er zahlte, geizte nicht mit dem Trinkgeld und wartete, bis der Fahrer
gewendet hatte, ehe er die Straße weiter entlangging. Der Verein Dignitas brüstete sich damit,
in Stoßzeiten die Nachfrage von hundert Kunden pro Tag zu befriedigen. Es war
durchaus nicht sicher, ob die FKK -Relax-Oase Babylon vergleichbare
Besucherzahlen geltend machen konnte, obwohl die Öffnungszeiten länger waren – Dignitas war im Wesentlichen
zu den Bürozeiten geöffnet und mittwochs bis 21 Uhr – und man beträchtliche
Anstrengungen hinsichtlich der Dekoration unternommen hatte, die zwar von
zweifelhaftem Geschmack, aber unzweifelhaft sehr aufwendig war. Dignitas dagegen – Jed
stellte es fest, als er fünfzig Meter weiter vor dem Gebäude angelangte – war
in einem weißen, mustergültig banalen Betonklotz untergebracht, der ganz dem
Stil von Le Corbusier entsprach: nach dem Pfostensystem errichtet, das eine
freie Fassade ermöglicht, und ohne jegliche Ornamente. Kurz gesagt ein Gebäude,
das den weißen Betonblocks glich, wie man sie überall auf der Welt zu Tausenden
in den Wohnsiedlungen der Vororte antrifft. Ein Unterschied bestand jedoch: die
Qualität des Betons. Und da gab es keinen Zweifel, Schweizer Beton war
polnischem, indonesischem oder madagassischem Beton bei weitem überlegen. Nicht
die geringste Unregelmäßigkeit, nicht der kleinste Riss verunstaltete die
Fassade, und das vermutlich mehr als zwanzig Jahre nach der Errichtung des
Gebäudes. Er war sich sicher, dass sein Vater selbst noch ein paar Stunden vor
seinem Tod die gleiche Feststellung gemacht hatte.
In dem Augenblick, als er klingeln
wollte, kamen zwei Männer in Windjacken und Baumwollhosen mit einem Sarg aus
hellem Holz – ein leichtes, billiges Modell, vermutlich sogar aus Spanplatten –
aus der Tür und setzten ihn in einem Peugeot Partner ab, der vor dem Haus
parkte. Ohne Jed zu beachten, kehrten sie sofort wieder ins Haus zurück. Sie
hatten die Türen des Lieferwagens offen gelassen und kamen eine Minute später mit
einem zweiten Sarg aus dem gleichen Material heraus, den sie ebenfalls in das
Nutzfahrzeug brachten. Sie hatten den Schließmechanismus der Haustür blockiert,
um sich die Arbeit zu erleichtern. Seine Vermutung bestätigte sich also: In der FKK -Relax-Oase Babylon ging es längst nicht so geschäftig zu wie hier. Der
Marktwert von Leiden und Tod übertraf den von Vergnügen und Sex, sagte sich
Jed, das war vermutlich auch der Grund, weshalb Damien Hirst einige Jahre zuvor
Jeff Koons den weltweit ersten Platz auf dem Kunstmarkt streitig gemacht hatte.
Zwar war Jed das Bild misslungen, das dieses Ereignis vor Augen führen sollte,
er hatte es nicht einmal fertigzustellen vermocht, aber so ein Bild blieb
durchaus vorstellbar, jemand anders hätte es malen können – es hätte vermutlich
jemanden gebraucht, der mehr Talent besaß als er. Dagegen erschien es ihm
unmöglich, in einem Gemälde die unterschiedliche wirtschaftliche Dynamik dieser
beiden Unternehmen klar zum Ausdruck zu bringen, die keine fünfzig Meter
voneinander entfernt am selben Bürgersteig einer ganz gewöhnlichen und ziemlich
tristen Straße an einer Bahnlinie in einem östlichen Züricher Vorort lagen.
Währenddessen wurde ein dritter Sarg
in den Lieferwagen gebracht. Statt auf den vierten zu warten, betrat Jed das
Gebäude und ging ein paar Stufen hinauf bis zu einem Treppenflur, wo er
zwischen drei Türen zu wählen hatte. Er öffnete die rechte mit der Aufschrift Wartesaal und gelangte in
einen Raum mit cremefarbenen Wänden und glanzlosen Plastikmöbeln, der
tatsächlich dem ein wenig ähnelte, in dem er im Kommissariat am Quai des
Orfèvres gewartet hatte, nur dass er diesmal nicht einen herrlichen Blick auf den Pont des Arts hatte, sondern ein
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