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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Bewerber angenommen wurde, in
weniger als zehn Minuten war die Sache systematisch abgetan.
    »Wir handeln in völliger
Übereinstimmung mit dem Schweizer Recht«, sagte die Frau eisig.
    »Und was ist aus der Leiche geworden?«
    »Nun, wie die große Mehrheit unserer
Kunden hat sich Ihr Vater für eine Feuerbestattung entschieden. Wir haben
seinem Wunsch entsprochen. Anschließend haben wir seine Asche in der Natur
verstreut.«
    Es war also wirklich so, sagte sich
Jed; sein Vater diente nun den brasilianischen Karpfen des Zürichsees als
Nahrung.
    Die Frau nahm die Akte wieder an
sich, da sie das Gespräch offensichtlich als beendet ansah, und stand auf, um
sie wieder in den Schrank zu legen. Jed stand ebenfalls auf, ging auf sie zu und
ohrfeigte sie heftig. Sie gab ein halb unterdrücktes Stöhnen von sich, hatte
aber nicht die Zeit, einen Gegenangriff zu machen. Er setzte direkt zu einem
Uppercut aufs Kinn an, gefolgt von einer Serie schneller Hiebe. Während sie
noch schwankend nach Atem rang, wich er ein paar Schritte zurück, um Schwung zu
holen, und versetzte ihr mit aller Kraft einen Fußtritt in die Magengrube.
Diesmal stürzte sie zu Boden und schlug dabei heftig gegen die Metallkante
ihres Schreibtisches; ein deutliches Knacken war zu hören. Ihre Wirbelsäule
hatte wohl etwas abgekriegt, sagte sich Jed. Er beugte sich über sie: Sie war
benommen und atmete schwer, aber sie atmete.
    Er ging schnell zum Ausgang und
erwartete mehr oder weniger, dass jemand Alarm schlug, aber die junge Frau am
Empfangsschalter blickte kaum von ihrem Kreuzworträtsel auf; tatsächlich hatte
der Kampf in völliger Stille stattgefunden. Der Bahnhof war nur zweihundert
Meter entfernt. In dem Augenblick, da er das Gebäude betrat, hielt ein Zug an
einem der Bahnsteige. Jed stieg ein, ohne eine Fahrkarte zu lösen, wurde nicht
kontrolliert und verließ im Züricher Hauptbahnhof den Zug.
    Als er im Hotel ankam, merkte er,
dass ihn diese Gewalthandlung in Form gebracht hatte. Es war das erste Mal in
seinem Leben, dass er irgendjemandem gegenüber körperliche Gewalt angewandt
hatte, und das hatte ihn hungrig gemacht. Er aß mit großem Appetit zu Abend:
Raclette mit Bündnerfleisch und Bergschinken, dazu einen ausgezeichneten
Rotwein aus dem Wallis.
    Am nächsten Morgen herrschte wieder
schönes Wetter in Zürich, eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden. Er fuhr
zum Flughafen und rechnete halb damit, bei der Passkontrolle festgenommen zu
werden, aber nichts dergleichen geschah. Und auch an den folgenden Tagen hörte
er nichts von der Sache. Es war erstaunlich, dass sie darauf verzichtet hatten,
ihn anzuzeigen. Vermutlich wollten sie es unbedingt vermeiden, mit ihrer
Tätigkeit Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht war an den im Internet
verbreiteten Vorwürfen, dass einige Mitglieder des Vereins sich persönlich
bereichert hatten, doch etwas dran. Für eine Einschläferung wurden im
Durchschnitt fünftausend Euro berechnet, während eine tödliche Dosis
Natrium-Pentobarbital nur etwa zwanzig Euro kostete und eine schlichte
Einäscherung vermutlich auch nicht sehr teuer war. Bei einem Markt mit hoher
Wachstumsrate, für den die Schweiz praktisch das Monopol besaß, konnten sie
sich tatsächlich eine goldene Nase verdienen .
    Seine Erregung legte sich ziemlich
schnell und wurde von einer Welle tiefer Trauer abgelöst, von der er wusste,
dass sie endgültig sein würde. Drei Tage nach seiner Rückkehr verbrachte er zum
ersten Mal in seinem Leben den Weihnachtsabend allein. Den Silvesterabend
ebenfalls. Und auch an den darauf folgenden Tagen war er allein.

E PILOG

 
    E IN PAAR M ONATE SPÄTER ging Jasselin in den Ruhestand. Es war zwar der normale
Zeitpunkt, aber bisher hatte er immer gedacht, er würde eine Verlängerung um
ein oder zwei Jahre beantragen. Der Fall Houellebecq hatte ihn zutiefst
verunsichert, und seine Überzeugung, dass er seinen Beruf gewissenhaft ausübte,
war in den Grundfesten erschüttert worden. Niemand hatte ihm Vorwürfe gemacht,
im Gegenteil, er war sogar in letzter Sekunde zum Ersten Hauptkommissar befördert worden; er würde
zwar diesen Posten nicht mehr bekleiden, aber dadurch erhielt er eine höhere
Pension. Eine große Abschiedsfeier war geplant, das gesamte Kriminaldezernat
war eingeladen, und der Pariser Polizeipräsident würde eine Rede halten. Kurz
gesagt, er ging mit allen Ehren in den Ruhestand, man wollte ihm ganz offensichtlich
zu verstehen geben, dass er, wenn man seine gesamte Laufbahn in

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