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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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sein, dass er gerade
aufgrund seiner fast ostentativen Distanz von einer Aura des Geheimnisvollen
umgeben war, sodass viele seiner ehemaligen Mitstudenten gern wissen wollten, was aus ihm geworden war .
    Am Tag der Ausstellungseröffnung
wurde ihm morgens bewusst, dass ihm seit einem knappen Monat nicht ein Wort
über die Lippen gekommen war, abgesehen von dem »Nein«, das er jeden Tag zu der
Kassiererin sagte (es war allerdings selten dieselbe), die ihn fragte, ob er
eine Casino-Kundenkarte habe; dennoch ging er zur festgesetzten Uhrzeit in die
Rue Boissy-d’Anglas. Es mochten etwa hundert Leute dort sein, aber so etwas
hatte er nie richtig einschätzen können, auf jeden Fall ließen sich die Gäste
in Dutzenden beziffern, und ihn überkam zunächst eine gewisse Unruhe bei der
Feststellung, dass er niemanden wiedererkannte. Einen Augenblick befürchtete
er, er könne sich im Tag oder in der Ausstellung geirrt haben, aber sein
Fotoabzug war tatsächlich dort, er hing einwandfrei beleuchtet an einer Wand im
hinteren Teil des Raumes. Nachdem er sich ein Glas Whisky eingeschenkt hatte,
ging er mehrmals in Ellipsenbahnen durch den Raum und tat so, als sei er
ziemlich in Gedanken versunken, obwohl sein Hirn keinen klaren Gedanken
formulieren konnte, einmal abgesehen von der Überraschung darüber, dass er die
Gesichter seiner ehemaligen Kameraden völlig aus dem Gedächtnis verloren hatte
– sie waren wie ausradiert, total ausradiert, in einer Weise, dass er sich fast
fragen musste, ob er sich überhaupt noch zum Menschengeschlecht zählen durfte.
Geneviève hätte er bestimmt wiedererkannt, ja, er war sich sicher, dass er
seine ehemalige Geliebte wiedererkannt hätte, das war eine Gewissheit, an die
er sich klammern konnte.
    Als Jed seinen dritten Rundgang
beendete, bemerkte er eine junge Frau, die seinen Fotoabzug sehr aufmerksam
betrachtete. Schier unmöglich, sie nicht zu bemerken: Sie war nicht nur bei
weitem die schönste Frau des Abends, sondern zweifellos die schönste Frau, die
er je gesehen hatte. Mit ihrer blassen, fast durchscheinenden Gesichtsfarbe,
ihrem platinblonden Haar und den hervorstehenden Wangenknochen entsprach sie
ganz dem Bild der slawischen Schönheit, wie es nach dem Zusammenbruch der UDSSR
von den Modelagenturen und diversen Zeitschriften verbreitet worden war.
    Bei seinem nächsten Rundgang war sie
nicht mehr da; bei der sechsten Runde entdeckte er sie wieder, wie sie lächelnd
mit einem Glas Champagner in der Hand inmitten einer kleinen Gruppe stand. Die
Männer starrten sie mit unverhülltem Begehren an, verschlangen sie geradezu mit
ihren Blicken, einer von ihnen sogar mit offenem Mund.
    Als Jed das nächste Mal an seinem Werk
vorbeikam, stand sie wieder davor, diesmal allein. Er zögerte eine Sekunde,
dann verlangsamte er den Schritt und stellte sich auch vor das Foto, das er mit
wiegendem Kopf betrachtete.
    Sie wandte sich ihm zu, sah ihn ein
paar Sekunden lang nachdenklich an und fragte dann: »Sind Sie der Künstler?«
    »Ja.«
    Sie sah ihn wieder an, diesmal noch
aufmerksamer, und zwar mindestens fünf Sekunden lang, ehe sie sagte: »Ich finde
es sehr schön.«
    Sie hatte das ganz einfach und ruhig
gesagt, aber aus echter Überzeugung. Jed war nicht imstande, eine passende
Antwort darauf zu geben, und wandte daher seinen Blick dem Foto zu. Er musste
zugeben, dass er mit dem Ergebnis tatsächlich ziemlich zufrieden war. Er hatte
für die Ausstellung einen Ausschnitt aus der Michelin-Karte der Creuse
ausgesucht, in dem das Dorf seiner Großmutter verzeichnet war. Er hatte eine
stark geneigte optische Achse gewählt, einen Winkel von dreißig Grad zur
Horizontalen, und die Filmstandarte für größtmögliche Tiefenschärfe maximal
gekippt. Anschließend hatte er mit Hilfe von Photoshop-Filtern eine
Entfernungsunschärfe und einen bläulichen Effekt am Horizont erzielt. Im
Vordergrund sah man den See von Breuil und das Dorf Châtelus-le-Marcheix.
Weiter hinten führten zwischen den Dörfern Saint-Goussaud, Laurière und
Jabreilles-les-Bordes gewundene Straßen durch die Wälder, die wie eine
unantastbare, feenhafte Traumlandschaft wirkten. Hinten links im Bild konnte
man das wie aus einer Nebelbank auftauchende rot-weiße Band der Autobahn A20
erkennen.
    »Machen Sie oft Fotos von
Straßenkarten?«
    »Ja … Ja, ziemlich oft.«
    »Immer von Michelin-Karten?«
    »Ja.«
    Sie überlegte ein paar Sekunden, ehe
sie ihn fragte: »Haben Sie schon viele Fotos dieser Art gemacht?«
    »Etwas

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