Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
mehr als achthundert.«
Diesmal starrte sie ihn mindestens
zwanzig Sekunden lang völlig verblüfft an, ehe sie fortfuhr: »Darüber würde ich
gern mit Ihnen sprechen. Wir müssen uns unbedingt verabreden, um darüber zu
sprechen. Es wird Sie vielleicht überraschen, aber … ich arbeite bei Michelin.«
Sie zog aus ihrer winzigen
Prada-Handtasche eine Visitenkarte hervor, die er dümmlich anstarrte, ehe er
sie einsteckte: Olga Sheremoyova, Public Relations, Michelin France.
Er rief sie am folgenden Morgen
an; Olga schlug vor, sich noch am selben Abend zum Essen zu treffen.
»Ich esse nur selten zu Abend«, wandte
er ein. »Also, ich meine, nur selten im Restaurant. Ich glaube, ich kenne nicht
einmal ein einziges Restaurant in Paris.«
»Aber ich kenne eine ganze Reihe«,
erwiderte sie bestimmt. »Ich muss sogar sagen … das gehört ein bisschen zu
meinem Beruf.«
Sie trafen sich in einem winzigen
Restaurant namens Chez Anthony et Georges , das nur über ein knappes Dutzend Tische verfügte und
in der Rue d’Arras lag. Alles in dem Raum, vom Geschirr bis hin zur
Einrichtung, war bei Antiquitätenhändlern erworben worden und bildete eine
schicke, uneinheitliche Mischung aus stilecht nachgebauten französischen Möbeln
des achtzehnten Jahrhunderts, Nippesfiguren im Jugendstil und englischem
Tafelgeschirr und Porzellan. Alle Tische waren von Touristen besetzt – vor
allem Amerikanern und Chinesen –, aber es gab auch eine russische
Tischgesellschaft. Georges begrüßte Olga wie einen Stammgast; er war mager,
kahlköpfig, machte einen leicht beunruhigenden Eindruck und sah ein bisschen
wie eine ehemalige Lederschwuchtel aus. Anthony, der Küchenchef, ließ sich wohl
den gemäßigten »Bären« zurechnen – er hatte vermutlich Probleme mit seiner
Figur, aber seine Speisekarte verriet eine deutliche Vorliebe für Foie gras.
Jed schätzte die beiden als halbmoderne Schwule ein, die sich darum bemühten,
die Exzesse und Geschmacksverirrungen zu vermeiden, die man ihrem Milieu
traditionellerweise nachsagte, sich aber trotzdem ab und zu etwas gehen ließen
– bei Olgas Ankunft hatte Georges sie zum Beispiel gleich gefragt: »Soll ich
dir den Mantel abnehmen, mein Schatz?«, und hatte dabei das mein Schatz mit halb
gespieltem Schwulengestus deutlich unterstrichen. Sie trug einen Pelzmantel,
eine seltsame Wahl für diese Jahreszeit, aber darunter entdeckte Jed einen sehr
kurzen Minirock und ein knappes, trägerloses Bandeau-Top aus weißem Satin, das
mit Kristallglasperlen von Swarovski bestickt war. Sie war wirklich betörend.
»Wie geht’s dir, meine Süße?«, fragte
Anthony, der eine Küchenschürze trug und mit wackelnden Hüften an ihren Tisch
gekommen war. »Magst du Hähnchen mit Flusskrebsen? Wir haben heute Krebse aus
dem Limousin bekommen, die sind köstlich, absolut köstlich. – Guten Tag,
Monsieur«, fügte er mit einem Blick auf Jed hinzu.
»Gefällt Ihnen das Restaurant?«,
fragte Olga, als Anthony sich wieder entfernt hatte.
»Ich … Ja. Es hat etwas sehr
Typisches. Zumindest macht es den Eindruck, dass es typisch ist, man weiß nur
nicht so recht, wofür. Ist es im Guide verzeichnet?« Er hatte das Gefühl, dass das die Frage
war, die sie erwartete.
»Noch nicht. Wir werden es nächstes
Jahr in die neue Ausgabe aufnehmen. Es sind schon Artikel darüber in Condé Nast Traveller und in
der chinesischen Ausgabe von Elle erschienen.«
Olga arbeitete zwar derzeit in der
Pariser Filiale von Michelin, war dieser aber eigentlich von der in der Schweiz
ansässigen Holdinggesellschaft Compagnie Financière
Michelin vorübergehend zugeteilt worden.
Aufgrund eines durchaus nachvollziehbaren Bemühens um Diversifizierung hatte
sich das Unternehmen vor kurzem auf nicht unerhebliche Weise am Kapital der Hotelkette Relais et Châteaux und vor allem der Kette French Touch beteiligt, die seit einigen Jahren immer größere Marktanteile
eroberte – wobei sie aus deontologischen Gründen eine absolute Unabhängigkeit
gegenüber den Redaktionen ihrer verschiedenen Hotel- und Gastronomieführer
wahrte. Das Unternehmen war sehr bald zu der Überzeugung gekommen, dass die
Franzosen insgesamt betrachtet kaum noch die Mittel hatten, sich einen Urlaub
in Frankreich zu leisten, und ganz gewiss nicht mehr in den Hotels dieser
Ketten. Ein Fragebogen, der im vergangenen Jahr in den French Touch -Hotels verteilt
worden war, hatte gezeigt, dass 75 Prozent der Gäste aus drei Ländern stammten:
China, Indien und Russland
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