Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
– in der Klasse »exklusive Luxushotels«, dem
höchsten Segment des Angebots, stieg ihr Anteil gar auf 90 Prozent an. Olga war
eingestellt worden, um die Kommunikation auf diese neue Zielgruppe
auszurichten, damit man sich deren Erwartungen anpassen konnte.
Das Mäzenatentum im Bereich
zeitgenössischer Kunst gehörte eigentlich nicht zur herkömmlichen
Unternehmenskultur von Michelin, fuhr sie fort. Das seit seiner Gründung in
Clermont-Ferrand ansässige multinationale Unternehmen, dessen Vorstand fast
immer ein Nachkomme der Gründer angehörte, stand im Ruf einer eher
konservativen, wenn nicht gar patriarchalischen Firma. Das Vorhaben, in Paris
ein der zeitgenössischen Kunst gewidmetes Michelin-Zentrum zu eröffnen, war bei
der Führungsspitze auf großen Widerstand gestoßen; dabei hätte das, da war sie
sich sicher, zu einer erheblichen Aufwertung des Firmen-Images in Russland und
China geführt.
»Langweile ich Sie?«, unterbrach sie
sich plötzlich. »Es tut mir leid, ich rede nur über geschäftliche Dinge, dabei
sind Sie Künstler …«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Jed
aufrichtig. Ȇberhaupt nicht, ich bin fasziniert. Sehen Sie nur, ich habe meine
Foie gras noch nicht mal angerührt.«
Er war tatsächlich fasziniert, aber
eher von ihren Augen und ihren Lippenbewegungen, wenn sie sprach – sie hatte
einen hellrosa Lippenstift mit leichtem Perlmuttglanz aufgetragen, der sehr gut
zu ihren Augen passte.
Dann sahen sie sich ein paar Sekunden
lang wortlos an, und Jed hatte keinen Zweifel mehr: Der Blick, mit dem sie ihm
in die Augen schaute, war eindeutig ein Blick des Begehrens . Und als sie seinen Gesichtsausdruck sah, wusste sie,
dass er es wusste.
»Kurz und gut«, fuhr Olga ein wenig
verlegen fort, »einen Künstler entdeckt zu haben, der Michelin-Karten zum Gegenstand
seiner Werke macht, ist eine unverhoffte Gelegenheit für mich.«
»Ach, wissen Sie, ich finde diese
Karten wirklich schön.«
»Das sieht man. Das sieht man Ihren
Fotos an.«
Es war dann fast zu einfach, sie
zu sich nach Hause einzuladen, um ihr weitere Abzüge zu zeigen. In dem
Augenblick, da das Taxi in die Avenue des Gobelins einbog, überkam ihn eine
leichte Verlegenheit.
»Ich fürchte, in meiner Wohnung
herrscht ziemliche Unordnung …«, sagte er.
Natürlich entgegnete sie, das sei
nicht schlimm, aber als er die Treppe hinaufging, nahm seine Besorgnis zu, und
als er die Tür öffnete, warf er ihr einen kurzen Blick zu: Sie war immerhin ein
bisschen zurückgewichen. Unordnung war wirklich ein Euphemismus. Rings um die auf Böcken
ruhende Tischplatte, auf der er seine Linhof-Fachkamera aufgebaut hatte, war
der gesamte Fußboden mit Abzügen übersät, teilweise in mehreren Schichten, es
waren vermutlich einige tausend. Er hatte nur einen schmalen Durchgang zwischen
dem Tisch und der direkt auf dem Boden liegenden Matratze freigehalten. Aber
die Wohnung war nicht nur in Unordnung, sondern sie war schmutzig , die Bettlaken fast
braun und mit organischen Flecken besudelt.
»Ja, das ist eine
Junggesellenwohnung«, sagte Olga unbeschwert, dann betrat sie den Raum und
hockte sich nieder, um einen Abzug zu betrachten. Dabei schob sich ihr Minirock
an ihren Schenkeln hoch, ihre Beine waren unglaublich lang und schlank, wie
konnte jemand nur so lange, schlanke Beine haben? Jed hatte noch nie so eine
Erektion gehabt, es schmerzte richtig, er stand zitternd da und hatte den
Eindruck, dass er gleich in Ohnmacht fallen werde.
»Ich …«, krächzte er mit nicht
wiederzuerkennender Stimme. Olga wandte sich um und merkte, dass die Sache
ernst war, sie erkannte sofort diesen verblendeten Blick, die Panik des von
Begehren völlig überwältigten Mannes, in wenigen Schritten war sie bei ihm,
hüllte ihn mit ihrem sinnlichen Körper ein und küsste ihn auf den Mund.
IV
E S WAR DENNOCH BESSER , zu ihr zu gehen. Das war natürlich etwas ganz anderes:eine reizende Zweizimmerwohnung in der Rue Guynemer, deren Fenster auf den
Jardin de Luxembourg hinausgingen. Olga gehörte zu jenen sympathischen Russen,
die in den Jahren ihrer Ausbildung Bewunderung für ein gewisses Frankreichbild
entwickeln – Galanterie, Gastronomie, Literatur und so weiter – und die es in
der Regel anschließend bedauern, dass das reale Land ihren Erwartungen so wenig
entspricht. Man hat oft den Eindruck, dass die Russen die große Revolution, die
ihnen erlaubt hat, sich vom Kommunismus zu befreien, einzig und allein mit dem
Ziel vollzogen haben, Big Macs und
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