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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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mechanische Abwandern der Straßen als Spaziergänge bezeichnen
konnte, bei dem kein Eindruck der Außenwelt sein Hirn erreichte, kein
Nachsinnen und kein schöpferischer Gedanke seinen Verstand beschäftigte; das
einzige Ziel, das er dabei verfolgte, war der Wunsch, abends todmüde ins Bett
zu fallen.
    Eines Nachmittags Anfang November
stand er gegen siebzehn Uhr plötzlich vor dem Haus in der Rue Guynemer, in dem
Olga gewohnt hatte. Dazu hatte es ja irgendwann mal kommen müssen, sagte er
sich: Das mechanische Herumirren durch die Stadt hatte ihn in die Falle
gelockt, und so hatte er den Weg eingeschlagen, den er monatelang täglich etwa
um dieselbe Uhrzeit gegangen war. Atemlos machte er kehrt, lief zum Jardin du
Luxembourg zurück und ließ sich auf die erstbeste Bank sinken. Er saß direkt
neben dem seltsamen, mit Mosaik verzierten roten Backsteingebäude, das sich in
einem der Winkel des Parks befand, an der Ecke der Rue Guynemer und der Rue
d’Assas. Die in der Ferne untergehende Sonne tauchte die Kastanien in ein
außerordentlich warmes, oranges Licht – fast indischgelb, sagte sich Jed, und
dabei fielen ihm ungewollt die Worte des Chansons »Le Jardin du Luxembourg«
wieder ein:
    Encore un jour
    Sans amour
    Encore un jour
    De ma vie
    Le Luxembourg
    A vieilli
    Est-ce que c’est lui?
    Est-ce que c’est moi?
    Je ne sais pas. 2
    Wie viele Russen liebte Olga Joe
Dassin, vor allem die Chansons seiner letzten Platte mit ihrer resignierten,
hellsichtigen Melancholie. Jed erschauerte und spürte, wie ein nicht zu
unterdrückendes Gefühl der Trauer in ihm aufkam, und als ihm die Worte von
»Salut les amoureux« wieder in den Sinn kamen, begann er zu weinen.
    On s’est aimés comme on se quitte
    Tout simplement, sans penser à demain
    A demain qui vient toujours un peu trop vite,
    Aux adieux qui quelquefois se passent un peu trop bien. 3
    Jed bestellte sich im Café an der
Ecke der Rue Vavin einen Bourbon, wusste aber gleich, dass das ein Fehler
gewesen war. Nach dem ersten aufmunternden Brennen wurde er sehr bald wieder
von Trauer übermannt, Tränen rannen ihm über das Gesicht. Er warf einen
besorgten Blick nach links und rechts, aber zum Glück achtete niemand auf ihn,
alle Tische waren von Jurastudenten besetzt, die von Feten oder
»Juniorpartnern« sprachen, also Dingen, die Jurastudenten interessieren, er
konnte in aller Ruhe weinen.
    Als er das Café wieder verlassen
hatte, schlug er die falsche Richtung ein, irrte ein paar Minuten in stumpfer
Benommenheit durch das Viertel und stand plötzlich vor dem Geschäft Sennelier Frères in der Rue
de la Grande-Chaumière. Im Schaufenster waren Pinsel, bespannte Keilrahmen in
gängigen Formaten, Pastellstifte und Tuben mit Ölfarbe ausgestellt. Er betrat
den Laden und kaufte ohne nachzudenken das Basismodell eines »Ölfarben
Color-Sets«. Der rechteckige Kasten aus Buchenholz, der innen in mehrere Fächer
unterteilt war, enthielt zwölf Tuben extrafeiner Ölfarbe von Sennelier, ein
Sortiment an Pinseln und ein Fläschchen Malmittel.
    Unter diesen Umständen erfolgte in
seinem Leben die »Rückkehr zur Malerei«, die zum Gegenstand unzähliger
Kommentare werden sollte.

XI
    I M WEITEREN V ERLAUF sollte Jed der Marke Sennelier jedoch nicht treu
bleiben, und die Gemälde seiner Reifezeit entstanden fast ausschließlich mit
Hilfe von Mussini-Farben der Firma Schmincke. Es gibt Ausnahmen, manche
Grüntöne, insbesondere das Zinnobergrün, das den bis ans Meer hinabreichenden
kalifornischen Kiefernwäldern auf dem Bild Bill Gates
und Steve Jobs unterhalten sich über die Zukunft der Informatik ein so magisches Leuchten verleiht, stammen aus der
Reihe Rembrandt-Ölfarben von Royal Talens. Und für die Weißtöne benutzte er
fast immer die Ölfarben der Marke Old Holland, deren Deckfähigkeit er schätzte.
    Jed Martins erste Gemälde können
den Betrachter, wie die Kunsthistoriker später hervorgehoben haben, leicht auf
eine falsche Fährte führen. Da er seine ersten beiden Gemälde, Ferdinand Desroches, Pferdemetzger und Claude Vorilhon, Schankwirt , immer seltener anzutreffenden Berufen gewidmet hatte,
konnte er den Eindruck von Nostalgie hervorrufen, als trauere er einem realen
oder imaginären früheren Zustand Frankreichs nach. Nichts stand seinen wahren
Interessen ferner, das ist die Schlussfolgerung, die letztlich aus seinen
Arbeiten abgeleitet wurde; und wenn Martin sich als Erstes zwei vom Aussterben bedrohten
Berufen zugewandt hat, dann nicht etwa, um ihr

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