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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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er selbst naiv genug war, um sich durch ein Lächeln entwaffnen zu lassen, und
Houellebecq war es, wie er vermutete, auch nicht. Der Autor von Der Sinn des Kampfes wich
allerdings einen Meter zurück, also gerade weit genug, um Jed zu erlauben, sich
vor dem Regen unterzustellen, ohne ihn jedoch wirklich hereinzubitten.
    »Ich habe eine Flasche Wein
mitgebracht. Einen guten Tropfen!«, rief Jed mit leicht gezwungener
Begeisterung, in etwa so, wie man Kindern Karamellbonbons anbietet, und zog sie
dabei aus seiner Reisetasche. Es war ein Château Ausone 1986, eine Flasche, die
ihn immerhin 400 Euro gekostet hatte – so viel wie ein Dutzend Flüge von Paris
nach Shannon mit Ryanair.
    »Nur eine Flasche?«, fragte der Autor
von Die Suche nach Glück und reckte den Hals, um das Etikett besser erkennen zu
können. Er stank ein bisschen, aber nicht so stark wie ein Kadaver – letztlich
hätte alles noch schlimmer sein können. Dann drehte er sich wortlos um, nachdem
er die Flasche gepackt hatte, und Jed fasste dieses Verhalten als Einladung
auf.
    Der größte Raum, das Wohnzimmer,
war beim letzten Mal, wenn er sich recht entsann, leer gewesen; jetzt standen
ein Bett und ein Fernseher darin.
    »Ja«, sagte Houellebecq, »nach Ihrem
Besuch ist mir klar geworden, dass Sie der erste Gast waren, der dieses Haus
betreten hat, und dass Sie vermutlich auch der letzte sein werden. Und daher
habe ich mir gesagt, warum soll ich die Fiktion eines Empfangszimmers
aufrechterhalten? Warum soll ich den größten Raum nicht einfach als
Schlafzimmer benutzen? Schließlich verbringe ich die meisten Tage im Bett.
Meistens esse ich im Bett und sehe mir dabei auf Fox Zeichentrickfilme an; es
ist ja nicht so, dass ich irgendwelche Dinnerpartys veranstalte.«
    Die mit Weinflecken besudelten und
stellenweise angesengten Bettlaken waren mit Zwiebackresten und
Mortadellastreifen übersät.
    »Lassen Sie uns am besten in die Küche
gehen«, schlug der Autor von Wiedergeburt vor.
    »Eigentlich bin ich ja gekommen, um
Fotos zu machen.«
    »Funktioniert Ihr Apparat in Küchen
nicht?«
    »Ich bin rückfällig geworden … Ich
bin total rückfällig geworden, was Wurst angeht«, fuhr Houellebecq düster fort.
Tatsächlich häuften sich auf dem Tisch Verpackungen von Chorizo, Mortadella und
Leberpastete. Er hielt Jed einen Korkenzieher hin und leerte, sobald die
Flasche geöffnet war, das erste Glas in einem Zug, ohne daran zu riechen oder
auch nur die elementarste Geste des Probierens vorzutäuschen. Jed machte ein
Dutzend Großaufnahmen und bemühte sich dabei, die Perspektiven zu variieren.
    »Ich würde gern ein paar Fotos von
Ihnen in Ihrem Arbeitszimmer machen … oder wo immer Sie arbeiten.«
    Der Schriftsteller gab ein Knurren von
sich, das nicht gerade begeistert klang, stand aber auf und ging vor ihm her
auf den Flur. Die Umzugskartons, die sich vor den Wänden stapelten, waren noch
immer nicht geöffnet worden. Houellebecq hatte seit Jeds letztem Besuch einen
Bauch angesetzt, aber sein Hals und seine Arme waren noch immer so mager wie
zuvor; er glich einer alten, kranken Schildkröte.
    Das Arbeitszimmer, ein großer
rechteckiger Raum mit kahlen Wänden, war, abgesehen von drei flaschengrünen
Gartentischen aus Plastik, die nebeneinander an einer Wand standen, so gut wie
leer. Auf dem mittleren Tisch befanden sich ein iMac 24 Zoll und ein
Laserdrucker von Samsung, die anderen Tische waren mit bedruckten oder
handschriftlich beschriebenen Seiten übersät. Der einzige Luxus war ein
schwarzer lederner Bürosessel auf Rollen mit hoher Rückenlehne.
    Jed machte ein paar Aufnahmen von dem
ganzen Raum. Als Houellebecq sah, wie er sich den Tischen näherte, zuckte er
nervös zusammen.
    »Machen Sie sich keine Sorgen, ich
sehe mir Ihre Manuskripte nicht an, ich weiß, dass Sie das hassen. Trotzdem …«,
sagte er und dachte einen Augenblick nach, »… trotzdem würde ich mir gern einen
Eindruck von dem Erscheinungsbild verschaffen, mit Ihren Anmerkungen und
Korrekturen.«
    »Nein, lieber nicht.«
    »Es geht mir nicht um den Inhalt,
absolut nicht. Ich möchte nur eine Vorstellung von der Geometrie des Ganzen
haben; ich verspreche Ihnen, dass auf dem Gemälde kein Wort zu erkennen sein
wird.«
    Widerwillig holte Houellebecq ein paar
Seiten hervor. Es gab nur sehr wenige durchgestrichene Stellen, aber zahlreiche
Sternchen mitten im Text, die mit Pfeilen auf andere Textblöcke, teilweise am Rand,
teilweise auf getrennten Seiten, verwiesen. Im Inneren

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