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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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nächsten Monat
vierzig wurde. Sie waren an der Hälfte ihres Lebens angelangt – die Zeit war
sehr schnell vergangen. Er richtete sich auf und sammelte seine Kleider
zusammen, die auf dem Boden verstreut lagen. Er erinnerte sich nicht daran,
sich am Abend zuvor ausgezogen zu haben, vermutlich hatte sie ihn entkleidet;
er hatte den Eindruck, als sei er eingeschlafen, sobald sein Kopf das Kissen
berührt hatte. Hatten sie miteinander geschlafen? Vermutlich nicht, und diese
einfache Tatsache war an sich schon schwerwiegend genug, denn nach so vielen
Jahren der Trennung hätten sie es wenigstens versuchen müssen, das vorhersehbare
Ausbleiben einer augenblicklichen Erektion hätte er sehr leicht auf übermäßigen
Alkoholgenuss zurückführen können, aber sie hätte doch versuchen können, ihm
einen zu blasen, er erinnerte sich nicht, ob sie es getan hatte, vielleicht
hätte er sie darum bitten sollen? Auch dass er im Zweifel über seine sexuellen
Rechte war und darüber, was im Rahmen ihrer Beziehung als natürlich und normal
gelten mochte, war beunruhigend und vermutlich ein Zeichen dafür, dass ihre Beziehung
zu Ende war. Die Sexualität ist etwas sehr Empfindliches, es ist schwer, einen
Zugang zu ihr zu finden, aber sehr leicht, darauf zu verzichten.
    Er schloss die mit straffem,
weißem Leder bespannte Tür des Schlafzimmers hinter sich und betrat einen
langen Flur, der rechts zu weiteren Schlafzimmern und einem Arbeitszimmer und
links zu den Empfangszimmern führte – kleine Wohnzimmer mit Louis- XVI -Stuckverzierungen und
Parkett in Fischgrätmuster. Im stellenweise von großen Stehlampen erhellten
Halbdunkel kam ihm die Wohnung riesig vor. Er ging durch eines der Wohnzimmer
und schob den Vorhang zur Seite: Die ungewöhnlich breite Avenue Foch wirkte
endlos lang und war mit einer dünnen Raureifschicht bedeckt. Das einzige Lebenszeichen
waren die Auspuffschwaden eines schwarzen Jaguar XJ auf der Seitenallee, dessen Motor im Leerlauf
schnurrte. Dann kam eine Frau in schwarzem Abendkleid leicht wankend aus einem
großen Wohnhaus und ließ sich neben dem Fahrer nieder; der Wagen setzte sich in
Bewegung und fuhr in Richtung Arc de Triomphe. Anschließend legte sich wieder
völlige Stille über das Viertel. Das Stadtbild zeichnete sich ungewöhnlich klar
vor ihm ab, je höher die schwache Wintersonne zwischen den Bürotürmen von La
Défense aufstieg und die strahlend weiße Fahrbahn der Avenue glitzern ließ. Am
Ende des Flurs gelangte er in eine große Küche mit einer zentralen
Arbeitsfläche aus Basalt, die von Schränken aus gebürstetem Edelstahl umgeben
war. Der Kühlschrank war leer bis auf eine Schachtel Pralinen von Debauve &
Gallais und einen angebrochenen Karton Orangensaft von Leader Price. Als Jed
den Blick durch die Küche schweifen ließ, entdeckte er eine Kaffeemaschine und
bereitete sich einen Nespresso zu. Olga war sanft und zärtlich, Olga liebte
ihn, sagte er sich mehrmals mit zunehmender Trauer, und zugleich wurde ihm
klar, dass ihre Beziehung ein für alle Mal zu Ende war; das Leben bietet einem
manchmal eine Chance, sagte er sich, aber wenn man zu feige oder zu
unentschlossen ist, um sie zu ergreifen, nimmt es einem den Trumpf wieder aus
der Hand. Es gibt einen geeigneten Moment, um Dinge zu tun und sich dem
möglichen Glück zu stellen, dabei kann es sich um einen Zeitraum von ein paar
Tagen, ein paar Wochen oder sogar ein paar Monaten handeln, aber diese Chance
bietet sich nur ein einziges Mal, und wenn man sie später erneut zu ergreifen
versucht, ist das schlichtweg unmöglich, es ist kein Raum mehr da für
Begeisterung, für Überzeugung, für Glauben, es bleibt nur sanfte Resignation,
gegenseitige Betroffenheit und das nutzlose, wenn auch berechtigte Gefühl
zurück, dass irgendetwas hätte geschehen können, man sich aber des Geschenks,
das einem gemacht worden ist, unwürdig gezeigt hat. Er bereitete sich einen
zweiten Kaffee zu, der die letzten Nebelschwaden des Schlafes endgültig
verscheuchte, und schickte sich an, Olga eine Nachricht zu hinterlassen. »Wir
müssen nachdenken«, schrieb er, ehe er die Worte durchstrich und notierte: »Du
verdienst einen Besseren als mich.« Dann strich er auch diesen Satz durch und
schrieb stattdessen: »Mein Vater liegt im Sterben«, doch dann wurde ihm klar,
dass er Olga nie von seinem Vater erzählt hatte, und er zerknüllte das Blatt,
ehe er es in den Papierkorb warf. Er würde bald so alt sein wie sein Vater bei
Jeds Geburt; ein Kind zu

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