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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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Gemurmel ist. Tränen brennen in meinen Augen. Ich schlucke schwer.
    »Ich verlange nicht von dir, dass du es verstehst, Papa. Ich bitte dich, es zu akzeptieren.«
    »Was akzeptieren?«
    Mich. Mich zu akzeptieren, Papa. »Meine Entscheidung, mein eigenes Leben zu leben, wie ich es für richtig halte.«
    Es ist so still, dass ich mir plötzlich wünsche, es zurücknehmen zu können. Tut mir leid, es war ein ganz dummer Witz. Ich hätte gern ein neues Kleid, bitte.
    Vater räuspert sich. »Das ist nicht so leicht, wie es klingt.«
    »Ich weiß. Ich weiß, ich werde furchtbare Fehler machen, Vater …«
    »Die Welt vergibt Fehler nicht so rasch, mein Kind.« Es klingt bitter und traurig.
    »Wenn mir die Welt nicht vergeben wird«, sage ich leise, »dann werde ich lernen müssen, mir selbst zu vergeben.«
    Er nickt verständnisvoll.
    »Und wie ist es mit Heiraten? Hast du denn die Absicht zu heiraten?«
    Ich denke an Kartik und muss die Tränen zurückdrängen. »Ich werde eines Tages jemanden kennenlernen, so wie Mutter dich gefunden hat.«
    »Du bist ihr sehr ähnlich«, sagt er und diesmal zucke ich nicht zusammen.
    Er erhebt sich und geht mit langen Schritten im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Werde ich das hier morgen bereuen?
    »Hab ich dir je die Geschichte von diesem Tiger erzählt?«, fragt Vater.
    »Ja, Vater. Das hast du.«
    »Nein, ich habe dir nicht alles erzählt«, sagt er. »Ich habe dir nicht von dem Tag erzählt, an dem ich den Tiger erschossen habe.«
    Ich erinnere mich an den Moment nach dem Morphium in seinem Schlafzimmer. Ich habe es damals einfach für Wahnvorstellungen gehalten. Das ist nicht die Geschichte, die ich kenne, und ich fürchte mich vor dieser neuen Geschichte. Er wartet meine Antwort nicht ab. Er will es erzählen. Er hat mir zugehört; jetzt werde ich ihm zuhören.
    »Der Tiger war verschwunden. Er zeigte sich nicht mehr. Aber ich war wie besessen. Der Tiger war zu nahe gekommen, verstehst du. Ich fühlte mich nicht mehr sicher. Ich stellte den besten Fährtenleser in Bombay ein. Wir pirschten tagelang und folgten der Spur des Tigers bis in die Berge. Wir fanden ihn, als er aus einem kleinen Wasserloch trank. Er sah auf, aber griff uns nicht an. Er nahm überhaupt keine Notiz von uns, sondern trank weiter. ›Sahib, gehen wir‹, sagte der Junge. ›Dieser Tiger ist harmlos.‹ Er hatte natürlich recht. Aber wir waren den ganzen weiten Weg gekommen. Das Gewehr lag in meiner Hand. Der Tiger stand vor uns. Ich zielte und schoss ihn auf der Stelle tot. Ich habe das Fell des Tigers für ein Vermögen einem Mann in Bombay verkauft und er nannte mich tapfer. Aber es war nicht Mut, was mich dazu gebracht hat, es war Angst.«
    Er trommelt mit den Fingern auf dem Kaminsims vor dem Porträt mit dem grimmigen Gesicht. »Ich konnte mit der Bedrohung nicht leben. Ich konnte mit dem Wissen, dass der Tiger dort draußen frei herumlief, nicht leben. Aber du«, sagt er und lächelt mit einer Mischung aus Trauer und Stolz, »du hast dem Tiger ins Auge geblickt und überlebt.«
    Er hustet mehrmals, seine Brust hebt und senkt sich schwer. Er zieht ein Taschentuch hervor und wischt sich rasch über den Mund, dann versteckt er das Tuch wieder in seiner Tasche, damit ich den Fleck, der bestimmt darin ist, nicht sehen kann. »Es ist Zeit für mich, dem Tiger ins Auge zu blicken und zu sehen, wer von uns überlebt. Ich werde nach Indien zurückkehren. Du sollst deine Zukunft selbst in die Hand nehmen. Ich werde deine Großmutter auf den Skandal vorbereiten.«
    »Danke, Papa.«
    »Ja, schon gut«, sagt er. »Und jetzt, wenn du nichts dagegen hast, möchte ich mit meiner Tochter anlässlich ihres Debüts tanzen.«
    Er reicht mir seinen Arm und ich nehme ihn. »Das möchte ich sehr gern.«
    Wir reihen uns in die große, stetig kreisende Runde der Tänzer ein. Einige verlassen das Tanzparkett, müde, aber vergnügt; andere sind gerade erst eingetroffen.
    »Gemmai Gemmai« Felicity drängt sich durch die Menge, sodass ihre verdrießliche Anstandsdame Mühe hat, ihr zu folgen, und die ältlichen Damen ihr missbilligend nachblicken. Ihr Debüt liegt erst eine Stunde zurück und schon hält sie alle in Atem. Zum ersten Mal in diesen Tagen lächle ich.
    »Gemma«, sagt Felicity, als sie mich eingeholt hat. Die Worte sprudeln vor Aufregung wie ein Sturzbach aus ihr hervor. »Du siehst traumhaft aus! Wie gefällt dir mein Kleid? Elizabeth hat ein bisschen gewackelt

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