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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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Morgenstunden aufwache, kommt es mir vor, als tauche ich aus einem langen, seltsamen Traum auf. Das samtene Licht glättet alle Kanten des Zimmers und badet es in einen rosigen Schein. In diesem beseligenden Moment erwarte ich einen Tag wie jeden anderen: Ich werde Französisch lernen, mit Freundinnen lachen. Ich werde Kartik über den Rasen kommen sehen, mit einem Lächeln, das mich mit Wärme erfüllt. Und gerade als ich anfange zu glauben, dass alles gut ist, ändert sich plötzlich das Licht um einen Schimmer. Der Raum nimmt seine wahre Gestalt an. Ich bemühe mich, in jene wohlige Unwissenheit zurückzusinken, aber es ist zu spät. Der dumpfe Schmerz der Wahrheit liegt zentnerschwer auf meiner Seele und zieht mich nach unten. Ich bleibe hoffnungslos wach.

71. Kapitel
    Der Morgen unserer Abreise ist der schönste Frühlingsmorgen, der sich denken lässt. Als es schließlich Zeit zum Abschiednehmen ist, stehen Felicity, Ann und ich unsicher auf dem vorderen Rasen und schauen nach der Staubwolke aus, die die Ankunft der Droschke ankündigt. Mrs Nightwing schlägt den Kragen von Anns Mantel um, prüft, ob mein Hut gut festgesteckt ist und die Schlösser von Felicitys Koffer ordentlich eingeschnappt sind.
    Ich fühle nichts dabei. Ich bin wie erstarrt.
    »Also dann«, sagt Mrs Nightwing zum ungefähr achtzehnten Mal in einer halben Stunde. »Haben Sie genügend Taschentücher? Eine Dame kann nie zu viele Taschentücher haben.«
    Sie ist und bleibt Mrs Nightwing, egal welche Schrecken sich ereignen, und gerade jetzt bin ich froh über ihre Kraft, woher sie sie auch nimmt.
    »Ja, danke, Mrs Nightwing«, sagt Ann.
    »Ah, schon gut.«
    Felicity hat Ann ihre Granatohrringe geschenkt. Ich habe ihr den Elfenbeinelefanten geschenkt, den ich aus Indien mitgebracht habe.
    »Wir werden von deinen Bewunderern in den Zeitungen lesen«, sagt Felicity.
    »Ich bin nur eine der vergnügten Jungfrauen«, erinnert uns Ann. »Es gibt auch noch andere Mädchen.«
    »Nun ja. Jeder muss irgendwo anfangen«, meint Mrs Nightwing.
    »Als ich meinen Verwandten geschrieben habe, dass ich nicht zu ihnen zurückkomme«, sagt Ann, »waren sie vor Zorn außer sich.«
    »Sobald du berühmt bist und dir das Londoner Theaterpublikum zu Füßen liegt, werden sie sich um Eintrittskarten prügeln und jedem sagen, dass sie dich kennen«, versichert ihr Felicity und Ann lächelt. Felicity dreht sich zu mir. »Wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen, werden wir vermutlich richtige Damen sein.«
    »Vermutlich«, antworte ich.
    Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
    Das Geschrei der jüngeren Mädchen, die sich auf dem Rasen drängen, eilt der Ankunft des Wagens voraus. Sie trampeln sich fast gegenseitig nieder, um die Nachricht als Erste zu überbringen.
    Anns Koffer wird mit Schnüren festgezurrt. Wir umarmen uns und lassen einander lange nicht los. Schließlich klettert Ann die Stufen in den Wagen hinauf, der sie zum Zug nach London bringt. Diesmal tritt sie die Fahrt zum Gaiety-Theater allein an. »Auf Wiedersehen«, ruft sie und winkt aus dem offenen Wagenfenster. »Bis morgen und übermorgen und überübermorgen!«
    Ich hebe die Hand nur halb und sie nickt, und dabei lassen wir es für diesmal bewenden.
    Felicitys Wagen kommt als nächster.
    In wenigen Stunden werde ich wieder in London im Haus meiner Großmutter sein und mich auf das schwindelerregende Karussell von Bällen und Einladungen vorbereiten, aus dem die gesellschaftliche Saison besteht. Kommenden Samstag werde ich unter den Augen meiner Familie und meiner Freundinnen vor meiner Königin knicksen und mein Debüt in der Gesellschaft machen. Es wird gespeist und getanzt werden. Ich werde ein schönes weißes Kleid und Straußenfedern im Haar tragen. Und es könnte mir nicht weniger bedeuten.

72. Kapitel
    Die Kutsche kommt, um uns zum Saint-James-Palast zu bringen. Selbst unsere Haushälterin kann heute Abend ihre Aufregung nicht verbergen. Ausnahmsweise sieht sie mich einmal an, anstatt durch mich hindurchzublicken. »Sie sehen wunderschön aus, Miss.«
    »Danke«, sage ich.
    Die Näherin legt noch letzte Hand an mein Kleid. Mein Haar ist hoch auf meinem Kopf aufgetürmt und mit einem Stirnreif und drei Straußenfedern gekrönt. Ich habe lange weiße Handschuhe, die bis auf meine Oberarme reichen. Und Vater hat mir meine ersten echten Brillanten überreicht – in einer zierlichen Halskette, die wie Tautropfen auf meiner Haut schimmert. »Reizend, ganz reizend«, betont Großmama, bis ihr

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