Kartiks Schicksal
Millers Lächeln verschwindet.
»Wenn Sie den Auftrag nicht zeitgerecht ausführen können, Mr Miller, werde ich andere Arbeiter suchen müssen.«
»Es wird in ganz London gebaut, Ma’m. Sie werden nicht so leicht welche finden. Leute wie wir wachsen nicht auf Bäumen.«
Nach meiner Zählung arbeiten mindestens zwanzig Männer tagein und tagaus und trotzdem ist Mrs Nightwing nicht zufrieden. Sie nörgelt und drängt und quält Mr Miller unentwegt. Merkwürdig. Das Gebäude steht nun schon so lange ausgebrannt und leer – was spielen da ein paar Monate mehr für eine Rolle?
Ich versuche, das jetzige Stadium des Turms auf meinem Zeichenblatt festzuhalten. Wenn er fertig ist, wird er der höchste Teil von Spence sein, vielleicht fünf Stockwerke hoch. Und mächtig dazu.
»Findest du es nicht eigenartig, dass Mrs Nightwing es so eilig hat, den Ostflügel fertigzustellen?«, frage ich Felicity.
Cecily hat es aufgeschnappt und kann mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg halten. »Es ist keinen Augenblick zu früh, wenn ihr mich fragt. Es ist eine Schande, dass sie so lange damit gewartet haben.«
»Ich hab gehört, sie haben jetzt erst die Mittel dafür aufgebracht«, berichtet Elizabeth.
»Nein, nein, nein!« Mrs Nightwing herrscht die Maurer an, als wären sie ihre Untergebenen. »Ich habe Ihnen gesagt – diese Steine müssen in der richtigen Reihenfolge gesetzt werden, hier und hier.«
Sie zeigt auf eine mit Kreide gezogene Linie.
»Bitte um Verzeihung, Missus, aber was spielt das für eine Rolle? Die Mauer wird standhaft und fest.«
»Es ist eine Restaurierung«, belehrt sie den Mann, als würde sie mit einem Tölpel sprechen. »Die Pläne müssen genau befolgt werden, ohne Abweichung.«
Ein Arbeiter ruft aus dem dritten Stockwerk des Turms herunter. »Es wird gleich regnen, Sir!«
Als Vorwarnung trifft ein Tropfen meine Wange, gefolgt von einem ganzen Stakkato weiterer Regentropfen. Sie spritzen über mein Blatt und verwandeln meine Skizze des Ostflügels in ein schwarzes Rinnsal. Die Männer schauen mit hoch erhobenen Händen zum Himmel, als würden sie ihn um Gnade bitten, aber der Himmel antwortet: kein Pardon.
Rasch klettern die Männer vom Turm herunter und rennen, um ihre Werkzeuge ins Trockene zu bringen und vor Rost zu schützen. Mit über unsere Köpfe gehaltenen Skizzenblöcken preschen wir Mädchen wie aufgeschreckte Gänse durch die Bäume, schnatternd und schimpfend über die Schmach einer solchen Dusche. Brigid winkt uns herein, ein Willkommen, das Sicherheit und ein warmes Feuer verspricht. Felicity zieht mich hinter einen Baum.
»Fee! Der Regen!«, protestiere ich.
»Ann kommt heute Abend zurück. Wir könnten versuchen, das Magische Reich zu betreten.«
»Und wenn es mir nicht gelingt, das Tor aus Licht erscheinen zu lassen?«
»Du musst dich nur fest darauf konzentrieren«, beharrt sie.
»Glaubst du, ich habe mich vorige Woche oder vorigen Monat oder die Zeit davor nicht fest darauf konzentriert?« Es beginnt jetzt immer heftiger zu gießen. »Vielleicht soll ich bestraft werden. Für das, was ich Nell und Miss Moore angetan habe.«
»Miss Moore!«, faucht Felicity. »Circe – so lautet ihr Name. Sie war eine Mörderin. Gemma, sie hat deine Mutter getötet und unzählige andere Mädchen, um dich zu schnappen und deine Zauberkraft an sich zu bringen, und bestimmt hätte sie dich vernichtet, wenn du sie nicht zuerst ins Jenseits befördert hättest.«
Ich möchte glauben, dass das stimmt, dass ich recht daran getan habe, Miss Moore für immer im Magischen Reich festzuhalten. Ich möchte glauben, dass es nur die eine Möglichkeit gab, die Magie zu retten, nämlich sie an mich selbst zu binden. Ich möchte glauben, dass Kartik heil und gesund und auf dem Weg hierher zu mir nach Spence ist, dass ich ihn jeden Moment hier im Wald sehen werde, mit einem Lächeln auf den Lippen, das nur mir allein gilt. Aber ich bin mir in diesen Tagen keiner Sache mehr sicher.
»Ich weiß nicht, ob sie tot ist«, murmle ich.
»Sie ist tot und Gott sei Dank, dass wir sie endlich los sind.« In Felicitys Welt ist das Leben so viel einfacher. Und für dieses eine Mal wünschte ich, ich könnte in ihre fest gefügte Welt schlüpfen und ohne Zweifel und Fragen leben. »Ich muss wissen, was mit Pippa geschehen ist. Heute Nacht wollen wir es wieder versuchen. Sieh mich an.«
Sie dreht mein Gesicht dem ihren zu, sodass ich ihren Augen nicht ausweichen kann. »Versprich es.«
»Ich verspreche es«, sage
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