Karwoche
Gesprächspartner beharren darauf, dass sich an Weihnachten alles so abgespielt hat, wie es bei Gericht vorgetragen wurde.«
»Gut«, sagte Wallner. »Dann sage ich Ihnen mal, was wir vermuten.«
Er nahm einen Briefumschlag aus seiner Jacke und legte ihn vor sich auf den Tisch. Die Millruths schwiegen und warteten mit sichtbarer Anspannung, was Wallner zu sagen hatte.
»Wir vermuten, dass Weihnachten Dinge aus der Vergangenheit Ihrer Tochter zur Sprache gekommen sind. Ihre Tochter wurde missbraucht, als sie etwa acht Jahre alt war?«
»Wer behauptet so etwas?«, fragte Katharina Millruth.
Wallner öffnete den Briefumschlag, entnahm ihm ein altes, welliges Polaroidfoto und reichte es seinen Gastgebern. »Wir haben dieses Foto in einem Plüschtier gefunden, das früher einmal Ihrer Tochter gehört hat. Sie hat es damals Sofia Popescu geschenkt, als die nach Rumänien zurückgekehrt ist. Ist das Leni?«
Katharina Millruth stockte der Atem, als sie das Foto sah. In ihrem Gesicht kämpfte Schrecken mit Ekel und Empörung. Wolfgang Millruth schien es nicht anders zu gehen. Sie legte das Foto mit dem Bild nach unten auf den Kaffeetisch und schloss die Augen. Jegliche Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. Wolfgang nahm ihre Hand.
»Katja, wir können es nicht für alle Ewigkeit weglügen. Es wird uns einholen. Es ist ein Fluch.«
Mit einem Mal verwandelte sich das Gesicht der beherrschten Frau in eine Fratze des Hasses. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Tassen klirrten, und schrie mit überkippender Stimme: »Er hat sie auch noch fotografiert!!«
Nach diesem Aufschrei schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte laut und hilflos und von Krämpfen geschüttelt, als sei in ihrem Inneren ein Staudamm geborsten. Ihr Schwager nahm sie in den Arm, wo sie einen Moment verweilte, um sich ihm dann wieder zu entziehen und ins Haus zu laufen. »Entschuldigen Sie uns einen Moment«, sagte Wolfgang Millruth und ging ihr nach.
Mike nahm das Foto, zögerte kurz und drehte es um. Es zeigte Leni Millruth im Alter von acht Jahren. Sie saß nackt auf einem Bett, die Beine gespreizt, und sah in die Kamera. Ihr Blick war verstört. Mike atmete durch und legte das Foto wieder mit der Bildseite nach unten auf den Tisch. Die beiden Männer sagten eine Weile nichts und hingen ihren Gedanken nach. Aus dem Haus drangen gedämpft Geräusche, die davon zeugten, dass Katharina Millruth die schlimmste Stunde ihres Leben durchmachte.
»Kommen die wieder?«, fragte Mike.
»Ich hoffe«, sagte Wallner und sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb vier. Sie tranken ihren Kaffee aus. Auf die Süßigkeiten hatte keiner Appetit.
Nach zehn Minuten kamen die Millruths aus dem Haus. Katharinas Augen waren rot und verquollen. In diesem Zustand hatte sie außerhalb der Familie vermutlich noch niemand gesehen. Und Wallner bezweifelte, dass man sie innerhalb der Familie so kannte. Die Schauspielerin hatte kein Make-up mehr im Gesicht und war solchermaßen um zwanzig Jahre gealtert. Sie schluckte und putzte sich noch einmal die Nase. Dann setzte sie sich aufrecht auf ihren Stuhl, und eisige Entschlossenheit legte sich über ihr Gesicht. Wallner fragte sich, ob Schauspieler solche plötzlichen Wandlungen des Ausdrucks trainierten.
»Sie wollen wissen, was Weihnachten passiert ist?«
Wallner und Mike hielten eine Antwort für überflüssig.
»Meine Tochter hatte einiges getrunken. Vielleicht auch, um sich Mut anzutrinken. Jedenfalls kam es zu einem Streit mit – nun ja, im Grunde mit allen anderen Familienmitgliedern. Im Zuge dieses Streits sagte Leni viel Kompromittierendes über fast jeden von uns. Ich glaube, sie hat so gut wie alle beleidigt. Und zum Schluss offenbarte sie uns, dass sie sich in therapeutischer Behandlung befand. Wegen eines Borderline-Syndroms.«
Wallner hörte aufmerksam zu und machte Notizen, obwohl Katharina Millruth ihm in dieser Hinsicht nichts Neues erzählte. Aber er musste wissen, welche Informationen er von ihr hatte und welche von der Therapeutin. Nur erstere konnte er verwenden. »Borderline hat meistens eine Ursache in der Geschichte der Patientin, wenn ich das richtig im Kopf habe.«
»Ja, das war bei ihr so.« Sie wies auf das Foto. »Sie haben ja selbst gesehen, was man mit ihr als Kind gemacht hat.«
»Und wer hat das Foto gemacht?«
Katharina starrte lange auf die Rückseite des Polaroidfotos. »Mein Mann Dieter«, presste sie schließlich hervor.
»Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt sehr in Ihre
Weitere Kostenlose Bücher