Karwoche
hätte dir doch mal auffallen müssen.«
Katharina atmete tief durch und versuchte, sich zu erinnern. Doch es kam lange nichts. Dann fiel es ihr mit einem Mal ein. »Sie wollte eine Zeitlang nicht, dass ich sie bade. Sie wollte, dass ich das Bad verlasse, und ich durfte sie nicht sehen.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Ich glaube, da war sie acht Jahre alt.«
»Ist das nicht eine normale Phase, die jedes Kind mal hat?«
»Ja, kann sein. Du hast mich gefragt, ob mir rückblickend etwas aufgefallen ist. Das ist mir aufgefallen. Es bedeutet für sich allein gar nichts. Aber es ist mir aufgefallen.«
Dieter stand aus seinem Campingstuhl auf und humpelte in Richtung Terrassentür.
»Wo willst du hin?«
»Ich hol nur den Cognac.«
»Doch nicht mit deinem kaputten Fuß. Setz dich wieder.« Sie holte eine Flasche Cognac, die neben der Terrassentür auf einem Pflanzentisch stand, und reichte sie ihrem Mann, der sich wieder hingesetzt hatte. »Hast du ein Glas?«
»Brauch ich nicht.« Er zog den Korken von der Flasche und nahm einen ordentlichen Schluck. Dann hielt er die Flasche Katharina entgegen.
»Nein«, sagte sie, blickte aber unentschlossen auf die Flasche. »Oder gib her.« Auch sie nahm einen Schluck und sah in die Nacht hinaus. Im Tal unten leuchteten die Christbäume in den Gärten.
»Weißt du, warum ich diese ganze Farce hier all die Jahre mitgemacht habe? Dass wir heile Familie spielen und du meinen eigenen Bruder vögelst? Weißt du das?«
»Warum?«
»Weil ich dich trotzdem liebe.« Er sah sie aus dunklen Augen an, traurig und unergründlich die Augenhöhlen, die mit den Jahren tiefer geworden waren und in die das Licht des Feuer nicht fiel, wenn er sich ihr zuwandte. Nur auf den Schläfen und auf seiner gewaltigen Nase zitterte der rote Widerschein der Flammen.
»Warum liebst du mich – nach allem, was ich dir angetan habe?«
»Es gab immer diese gemeinsame Wellenlänge. Dieses blinde Verstehen. Wir mussten nie erklären, wie wir etwas meinten. Wir haben uns vielleicht angelogen, uns Dinge verheimlicht. Aber wir haben uns nie missverstanden. Das ist selten. Ich glaube, so einen Menschen findet man nur einmal im Leben. Die paar Jahre, habe ich gedacht, kann ich warten – bis Wolfgang keinen mehr hochkriegt und zu senil ist, um rauszukriegen, wo ich sein Viagra versteckt habe.«
Sie kniete sich neben ihn und nahm seine kalten Hände. Sie waren alt geworden. Aber ihre waren es auch. Sie hatte seine Hände verehrt, als sie noch neu an der Bühne war. Sie waren wohlgeformt und groß. Er konnte damit seine Worte effektvoll unterstreichen, aber auch vollkommen durch Gesten ersetzen. Doch, sie hatten immer verstanden, was der andere meinte und wie er es meinte. Das hatte sie bei keinem anderen Menschen erlebt. Auch nicht bei Wolfgang. Sie legte ihren Kopf an Dieters Brust und sah ins Feuer. Sie waren füreinander geschaffen. Warum gab es so viel, das sie auseinandertrieb?
»Glaubst du wirklich, dass ich unsere Tochter missbraucht habe?«, sagte er schließlich und strich ihr dabei übers Haar.
»Nein«, sagte sie, nachdem sie ein paar Augenblicke zu lange nachgedacht hatte.
»Du lügst.«
»Nein«, sagte sie. »Aber … Herrgott – ich weiß nicht!« Als sie ihn ansah, glänzte es feucht in seinen dunklen Augenhöhlen.
Henry und Adrian tranken den teuren Bolgheri wie Wasser. Katharina hasste Dekadenz. Aber an einem Abend wie diesem gab es Wichtigeres. Adrian war wütend. Auf Leni. Auf ihren Auftritt und ihre Drohung, an die Öffentlichkeit zu gehen.
»Ich glaube ihr einfach nicht. Sie tut das, um sich wichtigzumachen. Na schön, wenn sie es hier in der Familie macht an einem Abend mit viel Alkohol – meinetwegen. Aber was machen wir, wenn sie mit ihren Phantasien an die Öffentlichkeit geht? Das wird unsere Familie nicht überleben.«
»Ich werde morgen noch mal vernünftig mit ihr reden«, sagte Wolfgang.
»Ja, versuch mal, vernünftig mit ihr zu reden. Das glaubst du doch selber nicht, dass die Vernunft annimmt. Wenn die sich was einbildet, dann zieht sie es durch.«
»Wir müssen sie jedenfalls davon abhalten, etwas öffentlich zu machen«, sagte Henry. »Selbst wenn sie ihr bei Gericht nicht glauben – Papas Ruf ist in jedem Fall ruiniert.«
Dieter humpelte heran und setzte sich neben Henry auf die Couch. Er legte eine Hand auf seine Schulter, wie er es bei Henry öfter tat. Bei Adrian nie. »Sie wird schon zur Vernunft kommen.«
»Glaubst du das?« Er sah seinen Vater
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