Karwoche
würde, um es zu wahren? Wie auch immer – Raubert war kein besonnener Killer. Die Chancen standen gut, dass er am nächsten Morgen mit den Nerven am Ende sein würde.
Mike war entschlossen, Dieter Millruth anzuzeigen. Wegen Mordversuchs. Aber das stand juristisch auf dünnen Beinen. Zumal sie sich rechtswidrig auf dem Grundstück aufgehalten hatten. Wallner riet Mike, die Sache zu vergessen. Dann trennten sich ihre Wege.
Gegen zweiundzwanzig Uhr kam Wallner nach Hause. Die Heizung lief, obwohl Wallner sie ausgeschaltet hatte, bevor er in den Urlaub aufgebrochen war. Es war niemand im Haus. Irgendetwas stimmte nicht.
Wallner nahm das Telefon und rief bei Manfreds Bruder Alfred an. Das hatte er schon den ganzen Abend tun wollen, es aber immer wieder vergessen. Manfred war jetzt neunundsiebzig und körperlich noch robust. Er zitterte ein wenig. Das war alles. Die paar Tage, die Wallner mit Vera am Gardasee verbringen wollte, wäre Manfred wohl allein zurechtgekommen. Aber Wallner mochte den Gedanken nicht, dass sein Großvater die Feiertage über allein war. Deshalb hatte er einen Besuch bei Manfreds Bruder Alfred organisiert. Alfred wohnte bei seiner Tochter, Wallners Tante Angelika, in Villingen. Er war zweiundachtzig, litt an Inkontinenz und weigerte sich aus diesem Grund kategorisch, aus dem Haus zu gehen. Manfred sprach von seinem großen Bruder meist als »der alte Depp«.
Wallners Tante Angelika und ihr Mann waren Realschullehrer und konnten Manfred deswegen nur in den Schulferien aufnehmen. Manfreds Besuch war ein Ganztagsjob. Man konnte die beiden Alten nicht sich selbst überlassen, irgendwann fingen sie unweigerlich an zu streiten. Manfred war körperlich stärker, Alfred hinterlistiger, und jeder der beiden durchaus in der Lage, den anderen zu verletzen. An Silvester hatte Manfred seinem Bruder im Streit um eine Wunderkerze einen Finger ausgerenkt und sich selbst eine Platzwunde auf der Stirn zugezogen, weil Alfred ihm tags darauf den Krückstock zwischen die Beine geschoben hatte, als Manfred auf dem Weg zum Kühlschrank war. Angelika hatte für die Osterwochen eingewilligt, weil ihre erwachsenen Kinder zu Besuch kommen und einen mäßigenden Einfluss auf die rabiaten Senioren ausüben sollten. So jedenfalls war der Plan.
Zu Wallners Erstaunen war Manfred nie in Villingen eingetroffen. Er hatte mittags angerufen und mitgeteilt, er müsse aus gesundheitlichen Gründen – die er nicht näher ausführte – von dem Besuch Abstand nehmen. Wallner sah in Manfreds Zimmer nach. Das Bett war unberührt.
Als Wallner das Zimmer verlassen wollte, hörte er Motorengeräusch vor dem Haus. Vom Fenster aus beobachtete er einen Kleinwagen, aus dem sein Großvater stieg. Kurze Verabschiedung vom Fahrer des Wagens, dann ging Manfred ins Haus.
Manfred wunderte sich ein wenig darüber, dass Licht im Haus brannte, vermutete jedoch, dass er es selbst hatte brennen lassen. Das kam vor in seinem Alter. Beschwingten Schrittes ging er in die Küche und sang dabei den Heinz-Rühmann-Schlager »Ich breche die Herzen der stolzesten Frauen«. Im Kühlschrank verschmähte er sein geliebtes Weißbier und kramte stattdessen von weit hinten eine Flasche Piccolo hervor, die er in ein Sektglas füllte.
»Was gibt’s denn zu feiern?«, sagte Wallner, der in der Küchentür stand.
Manfred quiekte vor Schreck, verschüttete seinen Sekt und drehte sich, die freie Hand auf seinem Herzen, zu Wallner um. »Herrschaftszeiten! Willst mich ins Grab bringen? Was machst denn du da?«
»Komisch. Die Frage lag mir auch auf der Zunge. Das letzte Mal habe ich dich heute in einem Zug nach Villingen gesehen.«
»Villingen?«
»Das liegt Richtung Schwarzwald. Dein Bruder lebt da.«
»Ja, ja. Das weiß ich doch.«
»Warum bist du dann hier?«
»Ich bin … in München ausgestiegen und bin wieder zurückgefahren.«
Dazu kam von Wallner kein Kommentar. Nur ein Ausdruck milden Erstaunens auf seinem Gesicht.
»Na ja – die G’schicht is die: Ich bin aus einem bestimmten Grund net nach Villingen gefahren.«
»Klingt spannend.«
Manfred wog seine Worte sehr genau ab, bevor er sie aussprach. »Ich hab Angst.«
»Angst?«
Manfred nickte schwer, und seine Augen wurden groß und dunkel, dass man hätte meinen können, der Leibhaftige stünde vor ihm.
»Angst vor der Zugfahrt?«
»Nein«, hauchte Manfred. »Angst vor meinem Bruder.«
»Jetzt komm …«
»Du redst dich leicht. Letztes Mal hab ich mir’s Hirn aufgeschlagen, weil mir der
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