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Karwoche

Karwoche

Titel: Karwoche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Föhr
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schauspielerisches Talent besaß, in ihren Rollen vollkommen auf. Das war man gewohnt. Heute, fand Katharina, überschritt sie freilich die Grenze zum Schmierentheater. Vor allem als Richard alias Dieter ihr während des Trauerzugs für den alten König einen Heiratsantrag machte und Anne ihn empört ablehnte – das waren echte Tränen. Irgendetwas war nicht in Ordnung mit Leni. Hatte sie Henry nicht gesagt, dass sie gar nicht kommen wolle? Was war los mit ihrer Tochter? Seit Leni von zu Hause ausgezogen war, war sie beunruhigend labil und sprunghaft. In der einen Minute war sie euphorisch und wollte die ganze Welt umarmen, im nächsten Augenblick versank sie in Depressionen.
     
    Der Himmel war sternenklar, über dem Wendelstein hing der Orion. Mit Glühwein und in Daunenjacken gehüllt saßen Katharina und Leni auf der Terrasse und rauchten. Katharina hatte vor ein paar Jahren ein Rauchverbot im Haus verhängt, letzten Sommer aber selbst wieder angefangen. Das Rauchverbot war geblieben. Mutter und Tochter waren die letzten Raucher in der Familie, wenn man von Wolfgang absah, der sich ab und an eine Selbstgedrehte ansteckte, und Dieter, der drei Mal im Jahr eine Zigarre rauchte.
    »Geht’s dir gut?«, fragte Katharina.
    »Ja. Sehr gut. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich auf das hier gefreut habe. Weihnachten! Ich glaube, ich weiß erst jetzt, was mir die Familie bedeutet.«
    Katharina legte ihren Arm um Leni und zog sie zu sich heran, küsste sie. »Ich bin so glücklich, dass du doch noch gekommen bist.«
    Leni schwieg.
    »Was war los? Warum wolltest du nicht kommen?«
    »Wer sagt das?«
    »Henry.«
    Leni blies auf den lauwarmen Glühwein, nahm zwei Schlucke, klebrig-süß, zog, wütend mit einem Mal, an ihrer Zigarette und starrte mit zitterndem Kinn zu den verschneiten Bergen hinüber. Katharina sah Tränen über Lenis Wangen laufen, an den Mundwinkeln vorbei und auf die Ärmel der Daunenjacke tropfen.
    »Tut mir leid, Schatz. Was hab ich denn gesagt?«
    Leni zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf. »Nichts.«
    Katharina legte ihre Hand auf Lenis Arm. Die rührte sich nicht, war erstarrt. Es war einer dieser Momente: Jemand hatte den Schalter umgelegt. Aus einem glücklichen Mädchen wurde ohne Übergang ein verzweifeltes Wesen, das niemanden an sich heranließ. Leni betrachtete die Glut der Zigarette und führte sie zu ihrem linken Handgelenk. Katharina hielt sie auf. »Lass es. Bitte!« Die Zigarette fiel auf den Schnee zu ihren Füßen.
    »Was ist es?«, sagte Katharina. »Was hat dich so verändert, seit du von zu Hause fortgegangen bist?«
    »Das möchtest du nicht wissen«, sagte Leni.
    Katharina überlegte, ob sie es wissen wollte. Ja, sie musste es wissen.
    »Ist etwas passiert in Erlangen?«
    »In gewisser Weise. Ja.«
    »Sag’s mir.«
    Leni schwieg und zündete sich eine neue Zigarette an.
    »In Erlangen ist etwas passiert, das dir Angst macht?«
    Leni schüttelte den Kopf.
    »Nein?«
    »Nein und ja.« Sie sah ihrer Mutter in die Augen. Katharina spürte einen kalten Hauch, kälter noch, als die Nacht ohnehin schon war. Die Augen, die sie ansahen, waren dunkel, tief. Und voller Furcht.
    »Das, wovor ich Angst habe«, sagte Leni, »ist hier. In unserer Familie.«
    »In unserer Familie?« Katharina schüttelte ungläubig und abwehrend den Kopf.
    »Du spürst es nicht, oder? Hast du es nie gespürt?«
    Katharina schwieg. Die Worte steckten ihr im Hals, aber wollten nicht hinaus in die Nacht. Eine Tür wurde geöffnet, jemand trat aus dem Haus auf die dunkle Terrasse.
    »Stör ich?«, sagte eine dünne Stimme.
    »Stören? Das ist wirklich der beschissenste Moment, um rauszukommen.« Leni lachte. »Mann bin ich froh, dass du da bist! Setz dich her, Glossester.« Leni nahm Jennifers Hand und zog sie zu sich auf die Bank.
    »Das spricht man nicht so aus, oder? Ich überleg schon den ganzen Abend.«
    »Das spricht man so aus. Lass dir von diesen bornierten Holzköpfen nichts einreden. Weißt du was, Jennifer? Ich finde dich großartig. Auf so eine wie dich hat die Familie schon lange gewartet.«
    Jennifer schwieg verlegen.
    »Hab ich recht, Mama?«
    »Ja. Jennifer ist ganz wundervoll. Ich hoffe, du fühlst dich wohl in unserer Familie.«
    »Sehr. Ihr seid sehr … nett zu mir.«
    Leni gab Jennifer einen Kuss und legte den Arm um sie. Katharina war nicht klar, ob sie das tat, um zu provozieren, oder ob sie das ungebildete Mädchen aus unerklärlichen Gründen wirklich ins Herz geschlossen hatte.

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