Karwoche
abzulegen.
Kapitel 15
I hre Augen strahlten in der letzten Nachmittagssonne, der Atem kam in einer Kondenswolke aus ihrem lachenden Mund. Die Zähne weiß und groß, Sommersprossen unter den Augen. »Hallo, Mama, ich bin’s. Na los! Küss mich, nimm mich in den Arm. Mach irgendwas. Aber schau nicht so.« Leni fiel ihrer Mutter um den Hals und drückte sie an sich, als sei sie von einer zweijährigen Weltreise zurückgekehrt.
»Schatz! Wie wunderbar, dass du da bist. Ich … wir haben schon gar nicht mehr damit gerechnet.«
»Dass ich komme?«
»Na ja …« Katharina wollte Leni nicht mit dem konfrontieren, was Henry erzählt hatte. Nicht nach der Begrüßung.
»Mama! Es ist Weihnachten. Wieso glaubst du, ich komme Weihnachten nicht heim?«
»Glaub ich ja nicht. Komm endlich rein. Wir wollten gerade anfangen.«
»Wie – ohne mich?«
»Du bist spät dran. Es wird bald dunkel.«
Sie umarmten sich noch einmal. Leni küsste ihre Mutter mehrfach auf beide Wangen und auf den Mund. Inzwischen waren Wolfgang, Henry, Jennifer, Adrian und Othello dazugekommen. Nachdem Leni allen Familienangehörigen um den Hals gefallen war, ein Feuerwerk an Küssen und Umarmungen abgebrannt und sich mit Othello auf dem Boden der Eingangshalle gewälzt hatte, wurde ihr Jennifer vorgestellt. Leni strahlte sie an, hieß sie in der Familie auf das Herzlichste willkommen und fand es aufregend, endlich die große Schwester zu haben, die sie sich immer gewünscht hatte. Katharina hielt das für voreilig, schwieg aber und tauschte einen Blick mit ihrem Ältesten Adrian, der ihre Meinung offensichtlich teilte. Lenis Vater Dieter konnte seine Chaiselongue nicht verlassen oder behauptete das zumindest. Er thronte im Salon und wartete, dass seine Tochter ihm ihre Aufwartung machte. Nachdem auch Dieter begrüßt worden war, erfuhr Leni, dass dieses Jahr Richard III . gelesen würde. Ein Schrei des Entzückens entfuhr ihr. Angeblich hatte sie seit ihrer Kindheit darauf gewartet, dass dieses grandiose Theaterstück endlich an die Reihe käme.
Es war Tradition in der Familie Millruth, dass am Nachmittag des Heiligen Abends ein Theaterstück in verteilten Rollen gelesen wurde. Es war ebenso Tradition, dass Katharina das Stück auswählte und die Wahl den anderen Familienmitgliedern erst an Heiligabend bekanntgegeben wurde. Katharina und Dieter erarbeiteten vor Weihnachten eine gekürzte Fassung, die in ausreichender Stückzahl auf dem Sideboard im Wohnzimmer auslag, wenn die Familie eintraf. Katharina verteilte auch die Rollen. Nie wählte sie Komödien, nie Liebesdramen. Beides empfand sie als unangemessen für den Anlass. Dieter durfte Richard III . spielen. Die Rolle kam ihm entgegen. Nicht nur war seine Laune verletzungsbedingt schlecht, Dieter liebte das Zynische und schien nichts jemals ernst zu nehmen. Dies hatte ihm zahlreiche Schurkenrollen beim Fernsehen eingebracht. Den Liebhaber durfte er nie geben. Dieter redete sich ein, dass die Bösewichte ohnehin die interessanteren Rollen seien, und schluckte seinen Neid auf den Erfolg seiner Frau in großen Brocken hinunter.
Das Spiel war heute anders als sonst. Ein Grund war Jennifer. Sie wollte an der Lesung nicht teilnehmen, da ihr jedes Talent zum Theaterspielen fehle, wie sie sagte. Das ließ Katharina nicht gelten und drängte die junge Frau freundlich, aber bestimmt zum Mitmachen. Es ginge um den Spaß, und sie solle sich nicht davon einschüchtern lassen, dass professionelle Schauspieler mit von der Partie seien. Ihre eigenen Kinder hätten sich in beschämender Weise geweigert, das Talent ihrer Eltern zu erben, und spielten, dass einem die Haare zu Berge stünden. Jennifer war Katharina und ihren Nötigungen nicht gewachsen und willigte schließlich ein. Eine Bereicherung für die Runde war sie in der Tat nicht. Sie hatte Probleme, flüssig zu lesen und die englischen Namen auszusprechen. Insbesondere »Gloucester« verursachte jedes Mal einen Moment der Peinlichkeit, der dadurch gesteigert wurde, dass Jennifer sich nicht einmal von der korrekten Aussprache der anderen Mitwirkenden belehren ließ, sondern stur an »Glossester« festhielt. Henry starrte zu Boden, vermied jeden Blickkontakt mit den anderen und wartete darauf, dass das Martyrium vorüberging.
Der zweite Grund, warum an diesem Nachmittag nicht die gewohnte Stimmung aufkam, war Leni. Sie hatte die Rolle der Anne und spielte sie auf eine Weise emotional, dass Katharina unbehaglich wurde. Leni ging, obgleich sie wenig
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