Karwoche
worden sein. Wallner hatte Oliver und Tina zu Rate gezogen.
»Es scheint noch relativ dunkel gewesen zu sein, als das Foto gemacht wurde.«
»Das kann man so nicht sagen«, wandte Tina ein. »Die Lichtverhältnisse werden durch die Kamera verfälscht. Je nach Blende und Belichtungszeit.«
»Was ist das da im Hintergrund?« Wallner zeigte auf einen dunklen Punkt jenseits des Hauses in Richtung Tal.
Oliver legte das Foto unter eine Lampe. »Schneepflug?«
Tina nickte.
»Wann kommt denn da der Schneepflug normalerweise vorbei? Die fangen doch ziemlich früh an.«
Tina und Oliver konnten in dem Punkt nicht weiterhelfen. Deshalb rief Wallner Michael Lipek von der Gemeindeverwaltung Schliersee auf dessen Handy an. Wallner kannte ihn noch von der Grundschule. Er gab die Auskunft, dass die Straßen in der Gegend um das Millruth-Anwesen sehr spät, für gewöhnlich zwischen sieben und acht geräumt wurden. Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages war Lipek selbst mit ausgerückt, weil einige seiner Leute entweder im Weihnachtsurlaub oder krank gewesen waren. Um kurz vor acht hatte er den Schneepflug zurückgebracht. Das wisse er, weil er danach noch zum Spitzingsee gefahren sei, um den Sonnenaufgang zu erleben. Und der sei am ersten Weihnachtsfeiertag ziemlich genau um acht. Er sei also, mit anderen Worten, irgendwann zwischen Viertel nach sieben und halb acht bei den Millruths vorbeigekommen.
Den Polizeiakten nach hatte Katharina Millruth um acht Uhr zweiundvierzig bei der Polizei angerufen und den Tod ihrer Tochter gemeldet. Wenn Wolfgang Millruth auf dem Foto gerade die Decke zur Leiche brachte und das Foto zum spätestmöglichen Zeitpunkt, das heißt um halb acht aufgenommen worden war, dann hatte man sich über eine Stunde Zeit gelassen, um die Polizei zu verständigen.
»Das ist der Schock«, sagte Oliver. »Manche Leute sind da wie gelähmt.«
»Da waren mindestens ein halbes Dutzend Leute im Haus«, erinnerte sich Tina, die damals die Spuren gesichert hatte. »Da muss doch wenigstens einer die Nerven gehabt haben, die Polizei anzurufen.«
»Ja«, sagte Wallner. »Ich sollte mal mit jemandem reden, der damals die Ermittlungen geleitet hat …«
Kapitel 20
S taatsanwalt Jobst Tischler war nicht direkt ein enger Freund von Wallner. Dass sie sich hassten, wäre allerdings zu viel gesagt. Eine gediegene gegenseitige Abneigung prägte das Verhältnis der beiden Männer. Tischler ließ nie den geringsten Zweifel daran, dass er als Staatsanwalt Herr des Ermittlungsverfahrens war. Bemerkenswert gering war hingegen seine Neigung, die aus diesem Selbstverständnis folgende Verantwortung zu übernehmen. Anders ausgedrückt: Tischler mischte sich ein, wo er nur konnte. Und wenn die Sache in die Hose ging, war’s die Polizei. Wallner war seiner Natur gemäß stets um eine sachliche Zusammenarbeit mit allen Beteiligten bemüht. Bei Tischler freilich erlag auch er manchmal dem menschlichen Verlangen, Leuten, die man nicht leiden konnte, eine reinzuwürgen. Mag sein, dass dieses Bedürfnis – wenn auch weit unten – auf der Liste der Gründe stand, die Wallner dazu bewogen, Tischler an einem Feiertag in München anzurufen.
»Herr Wallner – wie schön, von Ihnen zu hören. Es scheint wohl sehr wichtig zu sein, wenn Sie mich zu Hause anrufen.«
»In der Tat. Es geht um den Tod der Millruth-Tochter.«
»Die Sache ist erledigt. Das Urteil ist rechtskräftig.«
»Ja, meine Mitarbeiter waren so freundlich, mir davon zu berichten. Es haben sich inzwischen aber neue Erkenntnisse ergeben.«
»Schwer vorstellbar. Ich meine, dass sich Erkenntnisse ergeben haben, die irgendeinen Einfluss auf die Beurteilung der Sache haben könnten. Der Täter ist geständig. Das Gericht ist dem Antrag der Staatsanwaltschaft gefolgt. Was soll jetzt noch kommen?«
»Sie greifen sehr weit vor. Im Augenblick sind mir nur ein paar Dinge aufgefallen, die … nun ja, nicht ganz zusammenpassen.«
»Sie meinen: Widersprüche in den Ermittlungen?«
»Wenn Sie es so nennen wollen.«
»Oh – das wäre natürlich schlecht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei schlampig recherchiert hat.«
»Nein, das ist an sich nicht denkbar. Zumal die Staatsanwaltschaft ja sämtliche Ermittlungsschritte sorgfältig überwacht und zum großen Teil auch vorgegeben hat.«
»Ich will Sie nicht drängen, Herr Wallner. Aber ich muss zum Essen zu meinen Schwiegereltern. Also – worum geht es?«
»Wie Sie vermutlich wissen, hat sich gestern
Weitere Kostenlose Bücher