Karwoche
geringsten Ausdruck von Schmerz auf ihr Bein. »Macht es dir Spaß, Frauen weh zu tun?«
»Ach komm! Fang bitte nicht wieder an, Terror zu machen. Es ist Heiligabend.« Er nahm ihre Hand und küsste sie. »Lass uns einfach zwei schöne Tage zusammen haben.«
»Aber natürlich.« Sie zog ihre Hand weg. »Spielen wir wieder Liebhaben. Für das Stück müssen wir auch kein Skript auslegen. Das proben wir ja seit zwanzig Jahren.«
»Ist es eine gute Idee, dass du so viel Punsch trinkst?« Eine gewisse brüderlich-gütige Herablassung war nicht zu überhören.
Leni leerte das halbvolle Punschglas und kaute auf einem Fruchtstück herum. »Denke schon. Wie soll ich den Abend sonst überstehen?« Sie wandte sich an Jennifer. »Du solltest auch mehr trinken. Dann spürst du’s nicht so, wenn sie dich mit diesem Schau-mal-Henry-hat-eine-Krankenschwester-mitgebracht-Blick ansehen.« Sie drückte Jennifer mit theatralischer Geste einen Kuss auf die Stirn und ging.
Adrian hatte ein weiteres, Jennifer noch unbekanntes Lächeln aufgelegt. Es besagte: Das sieht schlimm aus, aber ich hab’s im Griff. »Du darfst sie nicht ernst nehmen. Sie kann der liebste Mensch der Welt sein, und im nächsten Moment spuckt sie dich an. Sie kann nichts dafür.«
»War das schon immer so?«
»Nein. Seit vielleicht zwei Jahren. Seit sie nach Erlangen gegangen ist, ist sie so … unausgeglichen. Um die Wahrheit zu sagen – manchmal könnte ich sie erwürgen.«
»Sie hat nie gesagt, warum sie so geworden ist?«
Adrian lachte. »Sie merkt nicht, wie sie ist.«
»Doch, sie merkt es.« Jennifer sah sich um. Gemütliches Plaudern umgab sie. »Ihr habt noch nie darüber geredet? Auch nicht ohne sie?«
»Es ist nicht so wichtig. Frauen sind nun mal launisch. Wenn du sie drauf ansprichst, wird’s nicht besser. Glaub mir.« Adrians Lächeln signalisierte, dass er gern zu angenehmeren Themen zurückkehren würde.
»Ich glaube, Leni würde schon darüber reden.«
»Aber?«
»Ich habe das Gefühl, deine Mutter möchte nicht, dass es angesprochen wird.«
Adrians Lächeln verweilte noch einen Moment auf seinem Gesicht, wurde dann zusammengefaltet, eingepackt und durch einen nachdenklicheren Gesichtsausdruck ersetzt. »Du hast eine bestimmte Vermutung, was mit Leni los ist?«
Die hatte Jennifer. Sie hatte zwei Jahre in der Psychiatrie gearbeitet und von der leichten Neurose bis zur schweren Schizophrenie alles gesehen, was dem menschlichen Geist an Störungen widerfahren kann. »Nein«, sagte sie.
Kapitel 22
D ie Welt war ungerecht. Da hatte Kreuthner eine Leiche entdeckt, die man vielleicht sonst nie gefunden hätte. Das Opfer eines heimtückischen Mordes, wie sich herausstellte. Aber statt ihn vorzeitig zu befördern, wollten sie ihm ein Disziplinarverfahren anhängen. Und die Kollegen? Kameradschaft, Solidarität oder auch nur Menschlichkeit – so etwas gab es heute nicht mehr. Nur noch eiskalte Bürokraten.
Früher, wenn sie einen angehalten hatten, weil er Schlangenlinie gefahren war, und es war ein Kollege, da hatten sie gefragt, wie weit er es noch nach Hause hatte. Wenn man verstehen konnte, was er sagte, und es noch ein, zwei Kilometer waren, da hatte man halt ein Auge zugedrückt und gesagt: Komm, schleich di. Und gib a bissl Obacht. Oder die Bierfahrer von der Brauerei – die mussten bei jeder Wirtschaft, wo sie das Bier hingeliefert haben, einen Obstler trinken. Das war so. Da hat’s keine Ausrede gegeben. Das hat denen aber nicht geschadet. Die konnten auch nach zwanzig Wirtschaften noch geradeaus fahren. Weil die das jahrelang geübt hatten. Nur – so ein Alkoholmessgerät weiß das ja nicht. Aber ein Polizist. Und so hat man die Bierfahrer eben in der Früh kontrolliert und nicht am Abend. Oder vor ein paar Jahren, da hat der Haitinger-Bauer auf der Wache anrufen können und fragen, ob die Polizei an dem Tag bei ihm in der Gegend Verkehrskontrollen macht. Da hat man gewusst, dass der Haitinger-Bub heut mit dem Traktor unterwegs ist. Der war halt erst acht. Der Bub, nicht der Traktor. Ja mein Gott! An dem Tag ist dann eben woanders kontrolliert worden. Zu Weihnachten hat es dann von Haitinger für jeden Polizisten eine Gans gegeben. So hat jeder was davon gehabt. Und passiert ist auch nie was. Bis auf einmal. Aber da hat der Haitinger selber gesagt, das wär Schicksal gewesen und dass da keiner was dafür gekonnt hat. Der Haitinger-Bub hat danach sowieso nicht mehr Traktor fahren können, und als Hoferbe kam er auch nicht
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