Karwoche
dich.« Katharina nahm die Hand ihrer Tochter, doch Leni zog sie weg.
»Hast du auch Angst vor mir?« Leni lächelte, und etwas Maliziöses spielte um ihre Mundwinkel. »Tick tick tick tick …«
Kapitel 33
J ennifer Loibl hatte das Geld genommen. Zwanzigtausend war Katharina Millruths Angebot gewesen. Viel Geld für jemanden, der im Münchner Hasenbergl aufgewachsen war. Dafür musste Jennifer nicht nur schweigen. Die Annahme des Geldes war auch mit der Auflösung des Verhältnisses, wie Katharina Millruth es bezeichnete, zu Henry verbunden. Außerdem musste sie sich eine Stelle an einem anderen Krankenhaus suchen. Ihre erste Reaktion war Abscheu gewesen. Die reichen Leute wollten sie kaufen. Allein, dass man davon ausging, dass sie sich kaufen ließ, war eine Beleidigung! Nach dem ersten Wutausbruch hatte Katharina Millruth sie zur Seite genommen und ihr erklärt, dass jeder Mensch käuflich sei. Sie, Katharina, habe sich schon viele Male verkauft, Rollen gespielt, die sie nicht mochte, weil sie Geld brauchte, Dinge gesagt, die sie nicht meinte, weil ihre Fans sie hören wollten. Bevor Jennifer ablehne, solle sie in Ruhe darüber nachdenken und das Für und Wider abwägen, sich fragen, ob sie wirklich ihre Seele verkaufen würde oder nicht eigentlich das täte, was sie ohnehin früher oder später tun würde, nur dass sie dafür noch Geld bekäme.
Jennifer hatte einen halben Tag über das Angebot nachgedacht und war zu folgendem Schluss gelangt: Henry war ein Waschlappen, er würde sich nie gegen seine Familie und vor allem nicht gegen seine Mutter auflehnen. Er hatte sich während der zwei Tage am Schliersee nicht auf ihre Seite gestellt, hatte nicht gesagt: Das ist die Frau, die ich liebe, und ich erwarte, dass ihr sie mit Respekt behandelt. Statt einen zermürbenden Kampf zu führen und am Ende doch zu verlieren, konnte sie Henry auch gleich zum Teufel jagen. Hinzu kam, dass Henry nicht eine Sekunde darüber nachgedacht hatte, der Polizei die Wahrheit zu sagen. Natürlich war der Druck der Familie enorm. Andererseits: Seine Schwester war ermordet worden. Hätte Henry so was wie Eier gehabt, hätte er sich anders verhalten.
Was ihre eigene Beteiligung an der Vertuschung der Vorgänge anbelangte, so hielt sich die moralische Belastung in Grenzen. Sie musste nicht lügen. Sie musste nur sagen, was sie positiv wusste – und das war nicht viel. Zu den interessanten Antworten, die sie gehabt hätte, wurden nämlich keine Fragen gestellt. Jennifer war jetzt zwanzigtausend Euro reicher, hatte eine neue, besser bezahlte Stelle im Krankenhaus am Rotkreuzplatz und ein helles Apartment in der Nähe des Nymphenburger Kanals. Zwei der Assistenzärzte und ein Oberarzt auf ihrer Station waren Singles, sahen annehmbar aus und hatten keine Zeit, eine Frau außerhalb des Krankenhauses kennenzulernen. Das Leben meinte es im Großen und Ganzen gut mit Jennifer. Allerdings waren ganz unten in den Kellergewölben ihres Gewissens ein paar lästige Schuldgefühle, die an den Kerkertüren rüttelten, hinter die sie sie verbannt hatte. Und dann war da eines Tages Anfang Februar dieser Anruf.
»Hallo, Jennifer, hier ist Hanna. Du wirst dich an mich erinnern. Mein Gesicht vergisst man nicht. Weihnachten bei den Millruths.«
Natürlich konnte sich Jennifer erinnern. Am Morgen hatten sie Leni gefunden, dann war die Polizei da gewesen, und am frühen Nachmittag stand mit einem Mal diese Horrorgestalt im Salon. Nicht dass Jennifer noch nie entstellte Menschen gesehen hätte. Sie war Krankenschwester und in der Hinsicht einiges gewohnt. Der Schock beim Zusammentreffen mit Hanna Lohwerk rührte daher, dass Jennifer sie zuerst von der intakten linken Seite gesehen hatte. Jemand sagte, das ist Hanna Lohwerk, sie ging zu ihr, um ihr die Hand zu geben – und Hanna Lohwerk drehte ihr das ganze Gesicht zu. Viel mehr hätte Jennifer an diesem Tag nicht verkraftet. Hanna Lohwerk war angeblich gekommen, weil sie von Lenis tragischem Ende erfahren hatte. Ihren eigenen Worten zufolge hatte ihr Leni sehr viel bedeutet. Das Schicksal habe sie und Leni ja gewissermaßen zusammengeführt. Auch wenn Leni nie davon erfahren hatte. Jennifer war nicht klar, was Hanna Lohwerk damit meinte, und niemand der Anwesenden nahm den Faden auf, so dass Jennifer mit ihrer Irritation allein blieb. Das Thema war offensichtlich unerwünscht und peinlich. Dass Hanna Lohwerk es an einem solchen Tag ansprach, fand Jennifer erstaunlich. Die Frau hatte aus unbekannten
Weitere Kostenlose Bücher