Karwoche
Gründen Macht über die Millruths.
Hanna Lohwerk erkannte sofort, dass Jennifer eine Außenseiterin in der Familie war, und suchte den Kontakt zu ihr. Die beiden Frauen sprachen eine Viertelstunde miteinander, bis Hanna schließlich von Katharina hinauskomplimentiert wurde. Sechs Wochen später rief sie Jennifer an. Sie hatte sich irgendwie ihre Telefonnummer besorgt. Jennifer wusste nicht recht, was sie von der Frau halten sollte. Ihr war klar, dass sie in der Familie Millruth nicht beliebt war. Unklar war, warum. Und warum sie dort aufgetaucht war. Das Interesse an Hanna Lohwerks Geheimnis war letzten Endes stärker als die Angst vor ihr. Die beiden Frauen verabredeten sich in München.
»Wie geht’s Henry?«, begann Hanna Lohwerk das Gespräch.
»Wir sind nicht mehr zusammen«, sagte Jennifer.
»Oh – warum das?«
»Ich glaube nicht, dass ich in die Familie passe.«
»Da hast du wohl recht. Ich habe einen Blick dafür, wenn sie jemanden verachten. Dich haben sie verachtet. Ich nehme an, alle waren wahnsinnig nett zu dir.«
»Ja. Aber es war trotzdem die Hölle.«
»Das haben die uns voraus.« Hanna Lohwerk rührte in ihrem Irish Coffee. Jennifer hatte gesehen, wie der Kellner förmlich Anlauf nehmen musste, um mit Contenance an ihren Tisch zu kommen. Sein Blick flackerte, wurde immer wieder von diesem halben Gesicht angezogen. Hanna Lohwerk hatte sich offenbar an solche Reaktionen gewöhnt. Wenn es sie störte oder verlegen machte, so zeigte sie es nicht. Als sie den Kellner nach der Toilette fragte, fügte sie hinzu, sie wolle sich abschminken, um gleich darauf klarzustellen, dass es sich zum einen Scherz gehandelt habe. Der Kellner wusste nicht, was er sagen sollte, und verschwand, den Blick auf dem Teppichboden, in Richtung Kuchentheke. Hanna Lohwerk genoss diese kleinen Quälereien. Der Kellner würde morgen seinen Seelenfrieden wiedergefunden haben. Sie aber würde immer noch mit ihrem Gesicht herumlaufen.
»Was haben die uns voraus?«
»Sie machen dich fertig, ohne dass du sagen könntest, was sie eigentlich getan haben.«
»Ja, das können sie gut.«
»Ich bin an Weihnachten reingekommen, habe dich gesehen und gedacht: Ach du Scheiße – ein richtiger Mensch. Was will die denn hier?«
»Ehrlich?« Jennifer lachte.
»Ach du Scheiße hast du wahrscheinlich auch gedacht, als du mich gesehen hast.«
»Ehrlich gesagt – ja.« Jennifer pulte verlegen ein Stück Zucker aus dem Papier.
Hanna Lohwerk nahm Jennifers Hand. »Das ist völlig normal. Du darfst auch drüber lachen.«
»Ich weiß nicht, ob ich drüber lachen will.«
»Doch, willst du.« Sie sah Jennifer in die Augen. Und Jennifer sah Hanna Lohwerk in die Augen. Und wenn sie sich auf die Augen konzentrierte, wurde auch die rechte Gesichtshälfte menschlich, fast normal.
»Wie ist das passiert mit deinem Gesicht?«
Hanna Lohwerk erzählte Jennifer die Geschichte. Wie Leni Millruth ihr vor zwölf Jahren vors Auto gelaufen war, der Unfall, das Feuer, die Schmerzen und der Selbstmordversuch, nachdem sie ihr Gesicht zum ersten Mal im Spiegel gesehen hatte. Katharinas kleine Rente ließ sie weg.
»Wahnsinn«, sagte Jennifer. »Ich glaube, ich hätte es nicht geschafft.«
»Das weiß man erst, wenn man’s erlebt hat. Lass uns von anderen Dingen reden.«
»Was möchtest du wissen?«
»Was möchte ich wissen …? Wer bist du? Was hast du vor im Leben? Und vor allem …«, Hanna Lohwerk nahm den letzten Schluck Irish Coffee aus ihrer Tasse, bevor sie den Satz beendete, »… was ist Weihnachten passiert?«
Jennifer verkrampfte unwillkürlich. Was wusste die Frau über die Sache an Weihnachten? Eigentlich konnte sie nicht mehr wissen als die Polizei. »Du weißt, was passiert ist«, sagte sie.
»Ja, ja. Die offizielle Version. Aber mal ehrlich, das ist doch lächerlich. Da steckt mehr dahinter.«
Jennifer fühlte sich in der Pflicht, Hanna Lohwerk von Weihnachten zu erzählen. Hatte die sich nicht auch ihr gegenüber geöffnet? Oder war sie von vornherein nur gekommen, um sie auszuhorchen? Jennifer mochte Hanna Lohwerk, auch wenn sie sich erst kurz kannten. Es war wohl nicht nur Seelenverwandtschaft. Es war die Solidarität der zu kurz Gekommenen. Die Frau mit dem halben Gesicht war vom Leben mit Füßen getreten worden. Aber sie war eine Kämpferin. Sie wollte ihrem verunstalteten Leben etwas abtrotzen. Das gefiel Jennifer. Außerdem hatte sie es satt zu schweigen und das Geheimnis der Millruths wie ein zentnerschweres Gewicht
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