Karwoche
Mutter.
»Warum siehst du Mama an? Die wird dir auch nicht helfen. Sie wird nämlich gleich sehr enttäuscht von dir sein. Wenn ich ihr erzähle, was die Spatzen in München vom Dach pfeifen.« Sie machte eine kurze Pause. Es blieb still. »Frau Intendantin Annegret Sailer soll seit neuestem einen jungen Lover haben. Und der junge Mann hat prompt Karriere an ihrer Bühne gemacht, obwohl er vorher als eher mittelmäßiger Schauspieler bekannt war.«
Katharina wandte den Blick langsam ihrem Sohn zu. Sie konnte den Ekel nicht verbergen, der sie bei der Vorstellung überkam, was Adrian mit der verhärmten Annegret im Bett getrieben hatte.
»Sie redet Unsinn. Sie redet seit einem Jahr Unsinn. Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich würde mit Annegret …«
»Leni!« Katharina würgte ihren Sohn ab. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich meine eigene Tochter einmal vor die Tür setzen würde. Aber du lässt mir keine andere Wahl.«
»Ihr wollt, dass ich verschwinde? Kein Problem. Nur noch zum Thema Familie. Und dass wir uns alle so vertrauen und liebhaben. Ist es schon mal jemandem aufgefallen, wie sehr sich Mama und Onkel Wolfgang liebhaben?«
»Es reicht!« Katharina verlor die Fassung. Ihre Stimme überschlug sich.
»Ja! Mir reicht’s. Dein Gefasel von der tollen Familie. Du fickst seit dreißig Jahren den Bruder deines Mannes. Keiner redet darüber. Aber jeder weiß es. Außer Papa natürlich.«
In die auf diesen Satz folgende Stille sagte Dieter: »Für wie dämlich hältst du mich? Natürlich weiß ich es.« Er zündete sich eine Zigarre an und ignorierte das von Katharina verhängte Rauchverbot. Es war kein günstiger Zeitpunkt, ihn darauf hinzuweisen. »Dreißig Jahre, das überrascht mich allerdings ein bisschen. Woher willst du das wissen? Du bist doch erst zwanzig.«
»Ich hab mich bei Adrian erkundigt.«
Adrian erwartete einen Blick seiner Mutter. Der blieb aus. Sie hatte die Augen geschlossen.
»Du weißt das? Und sagst nichts?«, flüsterte Katharina.
»Wir haben uns arrangiert. Ich will mich nicht beklagen.« Dieter paffte manieriert den Zigarrenrauch in die Luft und lächelte seine Frau an. Wolfgang setzte ein bedauerndes Gesicht auf.
»Es tut mir leid«, sagte Katharina. »Ich wusste nicht …«
»Mama, es muss dir nicht leidtun. Wenn es darum geht, den anderen mit der Verwandtschaft zu betrügen, ist er nicht besser als du. Eher schlimmer.«
Dieter fiel das Gesicht zusammen. Das erste Mal an diesem Abend schien ihn etwas aus der Fassung zu bringen. Katharina bemerkte diese Veränderung und war beunruhigt.
»Wie bitte? Ich habe deine Mutter in meinem ganzen Leben nicht betrogen«, sagte Dieter.
»Ich fürchte, da hast du was vergessen. Aber das kann passieren. Ich hatte es auch vergessen. Einfach verdrängt. Nach einem Jahr Psychotherapie ist es mir wieder eingefallen. Klingelt’s jetzt?«
»Kannst du mir bitte erklären, was dieses Gerede zu bedeuten hat?«, drängte Katharina, wenngleich sie sich vor dem unvermeidbar kommenden Unheil fürchtete.
»Das würde mich auch interessieren«, sagte Dieter. »Wenn es das ist, was ich vermute, dann bin ich gerade in einem ziemlich absurden Film.«
»Ich rede davon …« Leni presste die Lippen zusammen. Ihre Augen wurden nass, und sie sprach mit erstickter Stimme weiter. »Ich rede davon, dass mein Vater mit mir geschlafen hat, als ich acht Jahre alt war. Im alten Pferdestall. Mit dreizehn habe ich mich gewundert, warum ich keine Jungfrau mehr bin. Seit ein paar Wochen weiß ich es wieder.«
»Jetzt reicht’s aber!« Dieter warf seine Zigarre in einen Papierkorb. »Ich weiß nicht, was du da zusammenphantasierst. Aber ich habe dich in meinem Leben nie angefasst. Das ist schlicht gelogen.«
»Dass du alles abstreiten würdest, war mir klar. Aber was ist mit euch? Wollt ihr auch nicht wahrhaben, dass euer Vater ein Kinderschänder ist?«
»Bist du nur hergekommen, um unsere Familie kaputt zu machen?« Adrian hatte sich einen Whisky eingegossen. »Ich weiß, wie du mit acht warst. Du warst glücklich. Du warst unser Nesthäkchen. Und glaube mir: Da ist nichts passiert.«
Leni lachte fassungslos. »Wie willst du denn das beurteilen? Du warst doch gar nicht mehr da.«
»Ich war oft genug da. Und ich sag dir, was passiert ist: Früher hat sich alles nur um dich gedreht. Jeder hat dir deinen Arsch hinterhergetragen. Und kaum bist du aus dem Haus, entdeckst du, dass du nicht der Mittelpunkt der Welt bist. Klar. Das muss hart
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