Karwoche
macht.«
»Aha! So habt ihr euch das vorgestellt!« Leni stand auf der Treppe. Keiner wusste, wie lange sie zugehört hatte. »Ihr wollt mich zum Schweigen bringen. Aber ihr werdet euch noch alle wundern!« Hass flackerte in ihren Augen, als sie sich abwandte und nach oben ging.
Kapitel 42
W allner schüttete Kondensmilch in seinen Kaffee. »Haben Sie in der Therapie über die Familie gesprochen? Ich meine abgesehen vom Vater.«
»Wir haben fast nur über die Familie geredet.«
»Dann kennen Sie die Verwandtschaft also recht gut.«
»In mancher Beziehung wahrscheinlich besser als sie sich selbst. Aber das Bild der Familie stammt natürlich ausschließlich von meiner Patientin und ist damit subjektiv gefärbt.«
»Ich hatte den Vorzug, mir selbst ein Bild machen zu können. Wollen wir unsere Kenntnisse zusammenlegen? Ich will wissen, wie die Familie intern funktioniert.«
»Da kann ich Ihnen ein bisschen was berichten. Wo fangen wir an?«
»Bei der Mutter?«
»Das macht Sinn«, sagte Frau Pesternich und nickte.
Katharina Millruth war achtundfünfzig Jahre alt und auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als Schauspielerin. Sie verkörperte im Fernsehen attraktive fünfzigjährige Frauen, die ihre von Krisen geschüttelten Familien mit Mutterwitz und viel Liebe zusammenhielten und durch die Fährnisse der modernen Zeiten steuerten. Sie liebte diese Rollen. Die Zuschauer liebten sie in diesen Rollen.
Katharina selbst kam aus einer Familie, die auseinandergerissen wurde, als die Mutter starb. Katharina war zu dieser Zeit dreizehn Jahre alt und das zweitjüngste der vier Geschwister. Die älteste Schwester war zwanzig und ging nach Kanada. Die zweitälteste Schwester war siebzehn und blieb beim Vater. Katharina und ihr zwölfjähriger Bruder kamen nach Hildesheim zu einer Tante, weil der Vater sich nicht in der Lage sah, mehr als ein Kind zu erziehen. Die Tante war bemüht, Katharina und ihrem Bruder ein Heim zu geben, hatte jedoch ein Alkoholproblem, weshalb man ihr das Sorgerecht nach einem Jahr entzog. Die Geschwister kamen nach Murnau zu einer anderen Verwandten, die nicht trank, sich aber nichts aus Kindern machte. Sobald sie alt genug war, ging Katharina nach München auf die Schauspielschule und ihr Bruder nach Berlin, wo er 1974 an einer Überdosis Heroin starb. Von ihren Schwestern hörte Katharina nie wieder.
Mit vierundzwanzig heiratete Katharina den neun Jahre älteren Schauspieler Dieter Millruth. Zwei Monate nach der Hochzeit brachte sie einen Jungen zur Welt, dem sie den Namen Adrian gab, in Anlehnung an den von Katharina damals bewunderten Adriano Celentano. Zwei Jahre später kam Henry zur Welt. Er verdankte seinen Namen Henry Fonda. Nach Henrys Geburt widmete Katharina sich ausschließlich der Kindererziehung. Erst mit fünfunddreißig nahm sie wieder eine Rolle an, weil die Einkünfte ihres Mannes nicht ausreichten, um der Familie das Heim zu bieten, das Katharina sich vorstellte. Dieter war ein mittelmäßiger Schauspieler und verärgerte Produzenten, Regisseure und Kollegen mit seiner zynischen, zuweilen selbstgerechten Art. Die Familie lebte in einer Sozialwohnung in München-Neuperlach. Als Katharina wieder vor die Kamera trat, wurde alles anders. Die Regisseure mochten sie, die Zuschauer ebenfalls. Sie bekam mehr und mehr Angebote, und die Gagen stiegen.
Mit achtunddreißig war Katharina noch einmal schwanger geworden, brachte ein Mädchen zur Welt und gab ihr den Namen Marlene. Marlene wurde in dem Landhaus geboren, das Katharina in den achtziger Jahren für ihre Familie am Schliersee gekauft hatte. Marlene, die von allen Leni genannt wurde, war ein heiteres Kind und lachte viel.
»Katharina Millruth ist die Seele und der Motor der Familie«, sagte Frau Pesternich. »Sie bestimmt, was gemacht wird, sie gibt die Regeln vor und wer in der Familie willkommen ist und wer nicht. Das rührt daher, dass ihre eigene Familie auseinandergerissen wurde. Offenbar neigt Katharina Millruth dazu, die Zeit zu glorifizieren, als ihre Familie noch intakt war. Und genauso soll die Familie auch jetzt sein: ein Hort der Geborgenheit, wo sich alle vertrauen und die Familienbande für jeden das Wichtigste sind.«
»Ich sehe nicht viel fern. Aber es klingt so wie die Filme, in denen Katharina Millruth spielt.«
»So ist es. Die Filme, in denen sie mitspielt, verkörpern ihre Ideale. Die Familie ist das einzig Verlässliche im Leben und hält immer zusammen, auch wenn es mal stürmische Zeiten
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