Karwoche
vernünftige Reaktion. Wenn ein Kind den Missbrauch durch die Eltern aufdeckt, zerstört es die Familie und damit die eigene Lebensgrundlage. Welches Kind will das? Dass es ohne den Vater oder die Eltern besser dran ist, kann sich ein Kind nicht vorstellen. Es weiß nur, bewusst oder unbewusst, dass dann die einzigen Menschen weg sind, die es ernähren und beschützen und ihm Liebe geben. Also wird es alles tun, um die Familie zu erhalten. Auch um den Preis, jahrelang missbraucht zu werden.«
»Abgesehen davon wird ein Kind kaum zur Polizei gehen und seine Eltern anzeigen.«
»Alles schon vorgekommen. Aber in der Regel natürlich nicht.«
»Hab ich das richtig verstanden: Leni Millruth wird mit acht Jahren von ihrem Vater missbraucht. Und dann lebt sie zehn Jahre glücklich oder zumindest ohne psychische Beschwerden im Elternhaus?«
»Es kann durchaus eine glückliche Zeit gewesen sein. Sie hat das, was sie belastete, verdrängt und vergessen. Ich habe ihr Elternhaus nie gesehen. Aber es muss sehr schön sein.«
»Es gibt schrecklichere Orte, um seine Kindheit zu verbringen.«
»Sie hat ein schönes Heim in den bayerischen Bergen, Eltern, die zwar nicht immer da sind, aber sich durchaus liebevoll um sie kümmern. Sie hat ihren Onkel und zwei große Brüder, die das Nesthäkchen verwöhnen. Die Schule fällt ihr leicht, und sie hat viele Freunde. Eine perfekte Kindheit, könnte man meinen. Wäre da nicht ein Mensch, den sie eigentlich liebt, der Dinge mit ihr tut, die sie nicht will, die sie nicht versteht und für die sie sich schämt. Aber es geht, wenn man die Erinnerung daran verdrängt. Vielleicht ein paar seltsame Gefühle in der Pubertät, die Leni nicht zuordnen kann. Etwas, das sie auf merkwürdige Weise bedrückt, das sie aber nicht benennen kann. Sonst ist alles stabil, geordnet und behaglich. Es gibt keinen Grund, verrückt zu werden. Doch dann kommt der Bruch: Leni macht Abitur und geht in eine andere Stadt, um zu studieren. Mit einem Mal ist nichts mehr von dem vorhanden, das sie all die Jahre gestützt hat. Sie ist allein, und es macht ihr Angst. Die vertraute Umgebung ist verschwunden. Alles ist neu und verwirrend. Und niemand nimmt mehr Rücksicht auf die kleine Prinzessin.«
»Und durch diesen Schock, sag ich mal, wird das, was verschüttet war, wieder aufgerührt und hochgespült?«
»Aufgerührt, ja. Aber es wird nicht ›hochgespült‹ in dem Sinn, dass man sich an das erinnert, was einem widerfahren ist. Das Schreckliche schafft sich zwar seinen Weg nach draußen. Aber in veränderter Form. Ängste steigen hoch, vor allem Verlassensängste. Depressionen. Aggressionen gegen sich selbst und auch gegen andere. Selbstmordgedanken. Es sind schlimme Dinge, die plötzlich mit einem passieren. Und man hat nicht die geringste Ahnung, warum.«
»Wusste die Familie von der Therapie?«
»Ich bin nicht sicher. Ich nehme an, dass sie es nicht erzählt hat. Also nicht einmal, dass sie überhaupt in Therapie war. Geschweige denn aus welchem Grund. Jedenfalls bis zum Zeitpunkt unserer letzten Sitzung. Das war in der Woche vor Weihnachten.«
»Können Sie sich vorstellen, dass ihr Tod an Weihnachten in irgendeiner Weise mit ihrer Krankheit zusammenhing?«
»Unter Umständen. Kommt darauf an, was Weihnachten passiert ist.«
»Genau das versuche ich herauszubekommen.«
Kapitel 41
D ie Bescherung im Hause Millruth folgte einem seit Jahren bestehenden Ritual. Katharina sammelte die Geschenke ein. Alle anderen mussten das Wohnzimmer verlassen, während Katharina die Gaben auf einem eigens dafür vorgesehenen mehrstöckigen Tisch arrangierte. Vor jedes Geschenk wurde eine Kerze gestellt und angezündet. Wenn die Geschenke an ihrem Platz waren und alle Kerzen brannten, klingelte Katharina mit einem Silberglöckchen, Dieter öffnete die Schiebetür zum Salon, und die Familie kam im Gänsemarsch in das nur von den Kerzen und dem Weihnachtsbaum erleuchtete Zimmer. Katharina wählte ein Christkind aus, dem die Aufgabe zufiel, jedem sein Geschenk zu überreichen und die zugehörige Kerze auszublasen. Christkind zu sein, war eine Ehre, die einem naturgemäß nur alle paar Jahre zuteilwurde. Um ihr gerecht zu werden, musste das Christkind lustige Vermutungen darüber anstellen, was sich wohl unter der Verpackung versteckte und ob es dem Beschenkten gefallen würde. Der ungekrönte König dieser Veranstaltung war Dieter, der, solange er sich diesseits der Grenze zur Beleidigung aufhielt, schon für so manch
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