Karwoche
Salon, die Kerzen strahlten wie eh und je, Katharina trat vor die versammelte Familie, einen Heiligenschein in der Hand, den man vermittels eines dünnen Drahtgestells über dem Kopf schweben lassen konnte, und verkündete, wer dieses Jahr als Christkind die Geschenke verteilen durfte. Die Wahl fiel auf Henry. Henry nahm ehrerbietig die Blechaureole entgegen und schickte sich an, seines heiligen Amtes zu walten.
»Warum eigentlich Henry?«, fragte Leni.
Katharina zuckte unmerklich zusammen. In über dreißig Jahren hatte niemand diese Frage gestellt. »Wir haben die Wahl des Christkinds nie begründet, sondern immer die Weisheit der Mutter geachtet. Die nehme ich schließlich nur Weihnachten in Anspruch. Ich könnte meine Gründe nennen. Aber das käme mir ganz und gar unweihnachtlich vor. Findest du nicht auch?«
»O ja. Sicher. Ich frage nur, weil Henry eigentlich letztes Jahr dran war, wie du selber sagtest.«
»Um genau zu sein sagte ich, Henry wäre letztes Jahr dran gewesen. Aber er war in Südafrika. Und deswegen warst du das Christkind.«
»Richtig. Und wenn jemand nicht da ist, dann muss er eben aussetzen. Also so seh ich das. Ich meine, es hat jeder selbst in der Hand, ob er hier ist.«
Katharina schien zu überlegen, ob sie auf die Konfrontation eingehen oder nachgeben und das retten sollte, was an weihnachtlicher Stimmung noch übrig war. »Schau – es ist ja nicht so, dass seit Urzeiten festgelegt ist, wann wer dran ist. Wir sollten da ein bisschen flexibel bleiben.«
»Ja, so ist es. Du allein bestimmst, nach irgendwelchen Regeln, die außer dir keiner kennt. Und, offen gesagt, nervt es mich, dass Weihnachten immer nur deine Show ist. Du gibst vor, was hier passiert. Du bist Gott, verstehst du. Weil du aus jedem von uns das Christkind machen kannst.«
»Hallo! Leni!« Henry sah seine Schwester voller Unverständnis an. »Das ist nur ein Spaß. Es geht um nichts. Nur darum, wer ein bisschen Stimmung machen darf. Ein Spaß. Mehr nicht.«
»Ach so! Ein Spaß. Für einen Spaß ist das Ganze ziemlich durchinszeniert. Wir warten aufs Glöckchen, und dann marschieren wir ein wie ins Hochamt und führen uns auf wie die Deppen. Soll ich mal die spitzen Bemerkungen wiedergeben, die letztes Jahr gefallen sind, weil du an dem Spaß nicht teilgenommen hast?«
»Nein danke. Ich bin sicher, keine davon war böse gemeint.«
Er sah seine Mutter an. Im Kerzenschein bemerkte er, wie ihr die Tränen übers Gesicht rannen. Leni ging zu ihr hin, wirkte aber eher genervt als mitfühlend.
»Jetzt wein halt nicht. Das ist nicht fair. Nur weil ich mal ein paar Dinge in Frage stelle.« Sie strich ihrer Mutter über die Wange. Katharina nahm Lenis Hand.
»Du machst uns alles kaputt. Siehst du das nicht? Oder interessiert es dich nicht? Das funktioniert nur, wenn jeder mitmacht. Wenn jemand aussteigt, dann lässt er alle wie Knallchargen in einem lächerlichen Stück aussehen. Es war immer die Illusion, die uns zusammengehalten hat. Wir haben gespielt. Und wir haben gerne gespielt. All die Jahre. Und du hast es auch gerne gespielt. Aber seit du weggegangen bist, hast du dich verändert. Ich weiß nicht, was dich dazu treibt, unsere Familie zu zerstören. Aber ich weiß, dass ich das nicht zulassen werde. Wir sind eine Familie, wie es nur noch wenige gibt. Wir halten zusammen und achten einander und vertrauen uns. Zumindest war das bis jetzt immer so.«
»Tatsächlich? War das immer so?«
»Ja, verdammt! Das war so! Natürlich gibt es mal Streit. Das ist halt so und gehört dazu. Aber am Ende des Tages sind wir eine Familie, ein Blut. Und nichts kann uns trennen. Das ist, worauf es ankommt.«
»Ich glaube, es wird Zeit, dass dir jemand die rosa Brille von der Nase nimmt.«
»Leni, hör auf!«, mischte sich Adrian ein. »Wenn du Menschen verletzen willst, dann fahr zurück nach Erlangen und beleidige Leute auf der Straße. Aber lass uns in Ruhe. Und wenn es dir schon egal ist, wie sich deine Familie dabei fühlt, dann nimm wenigstens Rücksicht auf Jennifer. Was du hier aufführst, ist wahnsinnig peinlich für sie. Hast du gar keinen Anstand?«
»Ich lach mich tot! Um die arme Jennifer geht’s dir also! Meinst du die Freundin deines Bruders, die du vorhin auf das Peinlichste angebaggert hast? Die Jennifer, über die du dir anschließend mit unserer Mutter das Maul zerrissen hast? Die ihr alle anseht, als hätte sie die Krätze.«
»Was redest du da für einen Mist!« Adrian blickte hilfesuchend zu seiner
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