Karwoche
unter der Sauerstoffmaske und sagte nichts. Es gab kein Anzeichen dafür, dass er die Veränderung in seiner Umgebung wahrgenommen hatte. Als Vera ihn ansprach, gab er ein leises Stöhnen von sich und bewegte den Kopf fast unmerklich. Wallner war Christian zuvor vier Mal begegnet. Am Anfang ahnte man nicht, dass er krank war, wenn man es nicht wusste. Wusste man davon, bekamen die leichten Schatten um Christians Augen eine andere Bedeutung, und es fiel auf, dass er mehr Falten im Gesicht hatte, als seinem Alter angemessen. Christian war Wallner nicht unsympathisch. Aber er wollte keine Freundschaft mit ihm schließen. Es war offensichtlich, dass ein Teil von Vera bei Christian geblieben war. Diesen Teil gönnte er Christian nicht. Er wollte Vera ganz für sich haben. Das hatte nur teilweise mit der Kontrollsucht zu tun, die ihm von anderen unterstellt wurde. Er hatte das Gefühl, dass ihre Beziehung unvollständig war, solange sich Vera nicht wirklich von Christian verabschiedet hatte. Aber wie verabschiedete man sich von einem Sterbenden? Wallner dachte manchmal darüber nach, wie es sein würde, wenn Christian tot war. Er hoffte, dass es dann einfacher würde. Wenn er sich bei diesen Gedanken erwischte, schämte er sich und versuchte, an etwas anderes zu denken.
»Wo ist seine Mutter?«
»Die ist nach Hause gefahren und schläft ein paar Stunden. Ihr geht es ja selber nicht so gut.«
»Verstehe«, sagte Wallner und sah zu Christian, der unter der Sauerstoffmaske dahindämmerte.
Sie saßen lange an Christians Bett und redeten über Dinge, die nichts mit Christian und Krankheiten zu tun hatten. Wann sie den ausgefallenen Urlaub nachholen wollten, welche Entwicklungen es in dem Mordfall gab und warum Manfred Lebensmittel bei der Miesbacher Tafel holte, obwohl er nicht bedürftig war.
»Ich glaube, er baut geistig ab. Ist mir schon öfter aufgefallen, dass er unkonzentriert ist und Dinge vergisst. Neulich sitzt er bei mir im Wagen und fragt plötzlich: ›Wo sind wir?‹ Das war auf einer Strecke, die er tausendmal in seinem Leben gefahren ist.«
»Das ist mir auch schon passiert«, beruhigte ihn Vera. »Du bist in Gedanken, und dann siehst du auf die Straße und brauchst einen Moment, bis du dich wieder orientiert hast. Manfred ist völlig in Ordnung im Kopf.«
»Und dass er einfach aus dem Zug aussteigt und zurückfährt?«
»Der hat keinen Bock auf seinen Bruder. Die hassen sich.«
»Nicht wirklich.«
»Glaub’s mir. Das ist keine Hassliebe. Das ist die reine Abneigung. Manfred hat beschlossen, dass er Alfred nicht mögen muss, nur weil er mit ihm verwandt ist. Ich find’s gut, dass er das so durchzieht.«
Christian gab mit einem Seufzer zu verstehen, dass er auch noch da war. Vera nahm seine Hand. Er atmete ruhiger.
»Ich muss mal aufs Klo und mich frisch machen. Willst du hierbleiben?«
»Wenn er aufwacht, ist es besser, wenn jemand da ist, oder?«
»Ja. Aber das wird wohl nicht passieren.« Sie gab Wallner einen Kuss und ging aus dem Zimmer.
Wallner stellte sich neben das Bett und betrachtete Christian. Seine Wangen waren eingefallen, die Haut im Gesicht grau. Tiefe Lachfalten umgaben die Augen. Wallner überlegte, warum sich Vera von Christian getrennt hatte, einem fröhlichen Menschen, der andere zum Lachen brachte, der Unbeschwertheit ausstrahlte und die Stimmung aufhellte, wo immer er auftauchte. Es musste noch einen anderen Christian geben. Einen, dessen gute Laune einem auf die Nerven ging, weil sie vielleicht Fassade war, einen, der sich nur für sich selbst interessierte, der es nicht ertragen konnte, wenn er nicht im Mittelpunkt stand. Vielleicht lagen die Gründe ja auch in den unterschiedlichen Erwartungen an das Leben. Wallner dachte darüber nach, dass jeder Mensch diese zwei Seiten hatte. Die eine, die Freunde und Außenstehende sahen, und die andere, die man nur im Vergrößerungsglas einer Beziehung sehen konnte. Jetzt, im Angesicht des Todes, traten für Vera naturgemäß die guten Seiten in den Vordergrund. Wie viel Spaß sie miteinander gehabt hatten, wie er sie zum Lachen gebracht hatte, wie er einmal ein ganzes Zugabteil unterhalten hatte und wie er ihr gesagt hatte, er wolle mit ihr alt werden. Bliebe das so? Würde Christian, wenn er unter der Sauerstoffmaske aufgehört hatte zu atmen, zur Lichtgestalt erstarren und Vera für alle Zeiten ohne Makel in Erinnerung bleiben? So wie man sich an die Kindheit erinnerte: Dass man jeden Tag des Sommers im Strandbad verbracht
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