Karwoche
Auf eigenartige Weise abwesend.
»Ist was passiert?«, fragte Wallner.
»Nein. Was soll passiert sein?«
»Keine Ahnung. Du klingst irgendwie – anders.«
Vera schwieg.
»Sehen wir uns heute Abend?«
»Ich muss mal schauen. Ich … ich kann’s dir noch nicht sagen.«
Wallner war beunruhigt. Die Frage war rhetorischer Natur gewesen. Warum sollten sie sich nicht sehen? »Hast du was anderes vor?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Was heißt, du weißt es noch nicht? Es ist doch kein Problem, wenn du dich mit jemandem verabredet hast. Nur sag’s mir halt.«
»Ich hab mich nicht verabredet.«
»Und warum weißt du nicht, ob wir uns sehen können?«
»Kannst du nicht ein Mal vergessen, dass du Polizist bist? Du veranstaltest gerade ein Verhör mit mir.«
»Vielleicht tue ich das. Aber wenn du an meiner Stelle wärst, könntest du mit dem, was du sagst, auch nicht viel anfangen.«
»Lass uns jetzt aufhören. Ich ruf dich in einer Stunde noch mal an, okay?«
Wallners Unruhe wuchs. Aus dem Lautsprecher seines Handys hörte er im Hintergrund eine Stimme, die einen Arzt ausrief.
»Bist du in einem Krankenhaus?«, fragte er.
Vera zögerte. Nur eine Sekunde. Aber sie zögerte. »Ja. Bin ich.«
»Warum? Ist doch was passiert?«
Wieder dauerte es, bis eine Antwort kam. »Christian ist hier«, sagte sie schließlich.
»Aha«, Wallner zögerte. »Was hat das zu bedeuten?«
»Nichts Gutes. Es geht wohl aufs Ende zu.«
»Das tut mir sehr leid.« Wallner überlegte, wie er sich verhalten sollte. Veras Ex-Mann lag im Sterben. Wollte sie allein sein? Würde sie Wallner als Eindringling empfinden? Oder brauchte sie seinen Beistand? »Wo bist du?«
»Im Rechts der Isar.«
»Wo genau?«
»Onkologie. Station drei Strich vier.«
»Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir.«
»Du musst das nicht machen, Clemens.«
»Ich würde es aber gern machen. Es sei denn, du möchtest lieber alleine sein.« Vera sagte nichts. »Möchtest du lieber allein sein?«
»Vielleicht können wir einfach einen Kaffee zusammen trinken.«
Christian war nicht bei Bewusstsein. Die Ärzte hatten multiples Organversagen festgestellt. Der Krebs war offenbar ins Endstadium getreten. Vera sah aus, als hätte sie geweint. Wallner holte aus dem Automaten zwei Becher Kaffee und setzte sich zu ihr auf eine Bank. Es roch nach Desinfektionsmittel und anderen Dingen, nach denen es in Krankenhäusern roch.
»Wie ernst ist es?«, fragte Wallner.
»Er hat nur noch ein paar Tage, wenn überhaupt.«
»Das ist … furchtbar. Aber es war ja schon länger abzusehen.«
»Es ist wahrscheinlich das Beste für ihn. Das war kein Leben mehr.« Tränen tropften aus ihren Augen in den Kaffee. Wallner reichte ihr ein Taschentuch. »Es tut mir leid für dich. Du hast damit nichts zu tun, und ich sollte eigentlich auch nicht hier sein«, sagte sie mit belegter Stimme und verstopfter Nase.
»Das ist völlig in Ordnung. Ihr seid immer noch befreundet. Natürlich kannst du ihn besuchen, wenn es ihm schlechtgeht.«
»Clemens …« Sie wischte sich die Nase ab und sah ihm in die Augen. »Wenn er tot ist, wird es
mir
sehr schlechtgehen. Wirst du damit leben können?«
»Muss ich wohl. Ich hab’s nicht gern, wenn es dir schlechtgeht.«
»Es wird mir wegen Christian schlechtgehen.«
»Ich weiß. Ist mir klar, dass ihr nicht einfach nur gute Freunde seid. Ihr habt euch nie richtig getrennt, weil seine Krankheit dazwischenkam. Aber da kann niemand etwas dafür. Man lässt jemanden nicht im Stich, wenn er stirbt.«
Sie sagte nichts, legte ihre Arme um seinen Hals und ihren Kopf an seine Brust. Er zog sie zu sich und strich ihr übers Haar. Dann nahm er ihr Gesicht in die Hände und küsste sie auf ihre feuchten Wangen.
»Es war von Anfang an klar, dass es nicht einfach wird. Und dass dieser Moment kommen wird.«
»Macht es dir gar nichts aus?«
»Natürlich tut es mir weh. Aber … vielleicht sollten wir Christian verabschieden und dann über den Rest nachdenken.«
Vera nickte und wärmte sich am Kaffeebecher. Ein Krankenpfleger tauchte auf. »Wir sind fertig«, sagte er. »Sie können wieder rein.«
»Kommst du mit?«, fragte Vera.
»Klar«, sagte Wallner.
»Es wird nichts weiter passieren. Er ist seit einiger Zeit bewusstlos.«
Der Monitor über Christians Kopf zeigte Blutdruck, Herzfrequenz und andere Messwerte an. Sie waren im Moment alle im grünen Bereich.
»Hallo, Christian«, sagte Wallner. Aber Christian atmete mit geschlossenen Augen weiter
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