Kassandra Verschwörung
verändert. Am Eingang zur U-Bahn war sie nicht wiederzuerkennen gewesen. Sie hatte an der Wand gelehnt und besorgt auf die Uhr geschaut. Erst als er ebenfalls auf seine Uhr gesehen hatte, registrierte er, dass sie in seine Richtung grinste. Und dann war sie auf ihn zugekommen. Wahnsinn, sogar ihr Gang und jede Einzelheit an ihr war anders gewesen. Und trotzdem war sie es gewesen. Bei dem Gedanken lief ihm ein Schauder über den Rücken.
»Was ist mit Ihrem Abgang?«, fragte er jetzt, um ihr zu signalisieren, dass sie ihm nicht egal war.
»Der wird stattfinden.«
»Ich kann Ihnen helfen, falls Sie...«
»Sie haben Ihre Arbeit erledigt.« Sie hielt inne. »Und zwar gut. Jetzt bin ich an der Reihe. Okay?«
»Ja, schon gut.«
»Und jetzt sagen Sie mir: Warum wollten Sie sich eigentlich mit mir treffen?«
»Wie bitte?«
»Heute, warum haben Sie mich herbestellt?«
Er war nervös. »Na ja... für die... für die abschließende Einsatzbesprechung.«
Sie lächelte. »Überflüssig.«
»Und um Ihnen viel Glück zu wünschen«, platzte er heraus.
»Auch überflüssig.«
»Und weil... na ja, aus Interesse .«
»Das sollten Sie sich verkneifen.« Sie leerte ihr zweites Glas Chablis, erhob sich und griff nach ihrer Umhängeund Aktentasche. »Lassen Sie sich den Rest schmecken«, sagte sie. »Bleiben Sie noch mindestens fünf Minuten hier sitzen, nachdem ich weg bin. Leben Sie wohl.«
»Man sieht sich«, entgegnete er, obwohl er wusste, dass das nicht der Fall sein würde. Er starrte die Flasche an, dann sein Glas. Na gut, wenn sein Auftrag tatsächlich erledigt war , warum nicht? Er schenkte sich nach und prostete der Wand zu.
Die Hexe ging. Der Holländer war genau wie all die anderen: schwach. Wie alle Männer, die ihr in ihrem Leben begegnet waren, wie alle, mit denen sie zusammengearbeitet hatte. Die linksextremistischen Terroristen, die lautstark für die Ideen eines radikalen Feminismus eintraten und sich dann betranken oder zukifften und versuchten, mit ihr zu schlafen. Die Anführer verschiedener Gruppierungen, die zu viel redeten und eine große Leere damit füllten, aber über das Herumschwadronieren hinaus kein Konzept hatten. Die Anarchisten: politische Ladendiebe. Sie hatte sie alle erlebt, Zeit mit ihnen verbracht, am Anfang hatte sie vielleicht sogar eine Weile an sie geglaubt. Es war einfach, an etwas zu glauben, wenn man in einer stinkenden Dachkammer hockte und einen Joint aus mittelmäßigem Marochasch kreisen ließ.
Warum hatte sie den Wein getrunken? Der Holländer würde sich Sorgen machen. Er würde denken, dass sie vielleicht doch nicht so eiskalt und perfekt war, wie behauptet wurde. War das der Grund, warum sie den Wein getrunken hatte? Nein, sie hatte es getan, weil ihr danach gewesen war. Sie hatte Lust auf einen Drink gehabt. Chablis und Meursault waren die Lieblingsweine ihres Vaters. So stand es in dem Buch, das sie über ihn gelesen hatte …
Ihr war plötzlich mulmig zumute. Es schwirrten zu viele Leute um sie herum. Sie wich in eine kleine Gasse aus und fühlte sich gleich besser. Es war eine enge Straße, die an den Rückseiten hoher Backsteinbauten entlangführte. An mit Stahlriegeln verschlossenen Notausgängen, die man nur von innen öffnen konnte. Der Rinnstein war mit Müll übersät. Dreckige Stadt. Enge, zum Bersten volle Stadt. Sie hasste die Stadt. Sie hasste sie alle.
Hinter ihr hörte sie schlurfende Schritte. Sie drehte sich halb um. Zwei Jugendliche kamen durch die Gasse auf sie zu. Einer schwarz, einer weiß. Der Schwarze war für sein Alter ziemlich massig und hatte muskulöse Arme. Der weiße Jugendliche wirkte bleich und drahtig. Sie trugen lächerlich große Turnschuhe, um ihre Hälse baumelten metallene Medaillons. Sie redeten nicht. Und sie starrten sie an. Der Alkohol in ihrem Körper löste sich in Luft auf; sie war gewappnet. Sie sagten immer noch nichts, als sie nach ihrer Umhängetasche schnappten. Sie hielt sie unterhalb ihres Ellbogens fest und streckte den Arm aus. Mit der rechten Hand holte sie zuerst nach dem schwarzen Jugendlichen aus. Er stellte die eigentliche Gefahr dar. Sie verpasste ihm einen Schlag auf die Luftröhre und rammte ihm ein Knie in den Unterleib. Der weiße Jugendliche drehte sich halb um, um nach seinem Freund zu sehen, dabei erwischte sie mit der Seite ihrer Stirn seine Nase. Blut rann ihm übers Gesicht. Mit der einen Hand bedeckte er seine Nase, mit der anderen wühlte er in der Tasche seiner Jeans herum. Nein, das konnte
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