Kassandra Verschwörung
wusste sie. Zudem war der Sims hier ein wenig abgebröckelt. Gut. Sehr gut. Sie nahm die Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes ins Visier und starrte dann noch eine Weile hinab auf die Straße, die Lippen nachdenklich geschürzt.
Dann ging sie wieder zur Tür und inspizierte das Schlüsselloch. Eine unkomplizierte Angelegenheit, einfach zu verschließen und genauso problemlos aufzukriegen. Es wurde immer besser. Sie trat hinaus auf den Flur, schloss die Tür hinter sich und studierte die Liste mit den Terminen. Für morgen waren keine Sitzungen anberaumt, und am Mittwoch nur zwei, eine um zehn Uhr und die andere um Viertel nach vier. Dazwischen eine schöne Lücke. Ausgezeichnet. Die Hexe hatte keinen Zweifel mehr, das hier würde ihr Schlupfloch sein, das verborgene Versteck des Attentäters. Manchmal passierte es so: Du spazierst irgendwo rein oder steigst irgendwo hinauf, und sie springt dir sofort ins Auge: die perfekte Position. Andere Male musst du endlos suchen und dir den Kopf zerbrechen und vielleicht sogar neue Pläne schmieden und andere Orte in Erwägung ziehen. Sie hatte so manche Woche ihres Lebens damit vertan, ihre ursprünglichen Pläne zu verwerfen und neue durchzuspielen. Doch heute war ihr die Entscheidung in den Schoß gefallen. Vielleicht begann jetzt doch ihre Glückssträhne. Sie drehte sich um und sah den Mann mit den verschränkten Armen auf sie zukommen. Nur dass seine Arme jetzt nicht mehr verschränkt, sondern ausgebreitet waren.
»Sehen Sie«, sagte er. »Ich wusste doch, dass Sie sich verlaufen, wenn ich Sie allein lasse.«
»Ich habe mich nicht verlaufen«, entgegnete die Hexe bestimmt, »sondern mich nur vergewissert, wann die Sitzung am Mittwoch stattfindet.« Dann biss sie sich auf die Lippe. Risiko, Risiko, Risiko.
Der Mann sah sie erfreut und zugleich verblüfft an. »Welche Sitzung? Die um Viertel nach vier? Das ist ja die Sitzung, an der ich teilnehme. Sind Sie auch dabei?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin auf der um zehn.«
»Wie schade«, sagte er. »Aber wir sollten trotzdem nach der Sitzung zusammen einen Kaffee trinken. Was halten Sie davon?«
»Gern.«
»Ich heiße übrigens Jack. Jack Blishen.«
»Christine«, stellte sie sich vor und ergriff die Hand, die er ihr entgegenstreckte. Er hielt ihre Hand ein bisschen zu lange fest, während er sie mit Blicken verschlang. Sie schaffte es, die ganze Zeit zu lächeln.
»Zimmer zwei-sechsundzwanzig«, sagte er.
»Zwei-sechsundzwanzig«, wiederholte sie und nickte.
»Haben Sie vielleicht jetzt schon Zeit, etwas mit mir zu trinken? Die Kantine ist...«
»Nein, das geht nicht. Ich muss zurück. Ich habe ein paar Unterlagen vergessen.«
»Oje, oje, ist heute nicht ganz Ihr Tag, was?«
»Montagmorgen«, erklärte sie.
»Wem sagen Sie das?«, entgegnete er und grinste sie mit einem verschlagenen Lächeln an. Die Hexe stellte sich bildlich vor, wie sie ihm von unten mit voller Wucht ihren Handballen in die Nase rammte und sich Knochen und Knorpel in sein Gehirn bohrten. Oder wie sie ihm seinen fetten Bauch aufschlitzte.
»Dann haben Sie Madam noch gar nicht aufgesucht?«, fragte er.
»Madam?«
»Spurrier.«
»Nein, noch nicht.«
»Wenn ich Sie wäre, würde ich es lieber lassen. Es sei denn, Sie haben ihr gute Nachrichten zu überbringen. Sie ist grausam, Christine, glauben Sie mir. Sind Sie ihr schon mal begegnet?«
»Nein.«
Er holte tief Luft. »Dann seien Sie auf der Hut. Sonst macht sie Sie zur Schnecke. Ich habe es schon leibhaftig miterlebt.«
»Tut mir leid, Jack, aber ich muss jetzt wirklich...«
»Klar, lassen Sie sich nicht von mir ins Bockshorn jagen. So schlimm ist die Spurrier nun auch wieder nicht. Ich habe ein bisschen übertrieben. Ich wollte Sie nicht... Kommen Sie, ich bringe Sie zurück zum Aufzug.«
»Danke«, entgegnete sie. Er legte eine Hand auf ihre Schulter, und sie spürte erneut, wie Abscheu sie überkam. Kämpf dagegen an, sagte sie sich. Kämpf dagegen an. Sie musste ihre Kräfte für ihr Treffen mit dem Holländer schonen. Sie musste Stärke ausstrahlen , mehr noch als Stärke – Unbezwingbarkeit. Sie musste ihn weiter täuschen. Spätestens am Mittwoch war sowieso alles egal. Sie klammerte sich an diesem Gedanken fest. Höchstens noch zwei Tage. Sie würde durchhalten. Auf jeden Fall.
Sie musste durchhalten.
Es gab Gelegenheiten, bei denen der Holländer die Ansicht »das Öffentliche ist privat« teilte. In London teilte er sie ganz gewiss. Was war schon
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