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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Ein frühes, sehr frühes Bild, das schwimmt und das ich, wenn ich meine Aufmerksamkeit ruhig schweifen lasse, vielleicht einfangen kann. Ich blicke abwärts. Etwas wie ein Menschenzug, erhobene Gesichter, dicht an dicht, gedrängt in der engen Straße unter mir. Bedrohlich, gierig, wild. Schärfer. Schärfer. Ja: der stille weiße Mittelpunkt. Ein Knabe, ganz in Weiß, am Strick den weißen jungen Stier. In all der Wildheit der unberührbare weiße Fleck. Und das erregte Gesicht der Amme, auf deren Arm ich bin. Und Panthoos, aber das seh ich nicht, das weiß ich, Panthoos an der Spitze des Zugs, selbst fast noch ein Knabe, sehr jung, sehr schön sei er gewesen. Und er wird die Menge zum Skäischen Tor führn und den Stier schlachten, aber den Knaben freigeben: Der Gott, Apollon, der die Stadt beschützt, wolle hinfort kein Knabenopfer mehr. »Knabenopfer«, da ist das Wort. Ich sah keins mehr in Troia, obwohl …Dies Opfer abzuschaffen, hat Priamos, der Vater, den Panthoos gebraucht. Und als im neunten Jahr des Kriegs die Griechen gegen das Skäische Tor anrannten, es einzunehmen drohten – das Tor, an dem der Grieche keinen Knaben opfern ließ –, da hieß es: Der Verräter Panthoos. Mein harmloses gutgläubiges Volk. Ich mochte ihn zuletzt nicht mehr, Panthoos. Ich mochte nicht in mir, was durch ihn verführbar gewesen war.
    Wer lebt, wird sehn. Mir kommt der Gedanke, insgeheim verfolge ich die Geschichte meiner Angst. Oder, richtiger, die Geschichte ihrer Entzügelung, noch genauer: ihrer Befreiung. Ja, tatsächlich, auch Angst kann befreit werden, und dabei zeigt sich, sie gehört mit allem und allen Unterdrückten zusammen. Die Tochter des Königs hat keine Angst, denn Angst ist Schwäche und gegen Schwäche hilft ein eisernes Training. Die Wahnsinnige hat Angst, sie ist wahnsinnig vor Angst. Die Gefangene soll Angst haben. Die Freie lernt es, ihre unwichtigen Ängste abzutun und die eine große wichtige Angst nicht zu fürchten, weil sie nicht mehr zu stolz ist, sie mit anderen zu teilen. – Formeln, nun ja.
    Sie haben wohl recht, wenn sie sagen, je näher dem Tod, desto leuchtender und näher die Bilder der Kindheit, Jugend. Eine Ewigkeit habe ich sie mir nicht mehr vor Augen geführt. Wie schwer, fast unmöglich, es doch war, das ZWEITE SCHIFF als das zu sehn, was es, nach Hekabes Ausruf, wirklich war: eine Angstpartie. Worum ging es bloß, war es so wichtig, daß sie Männer wie Anchises, wie Kalchas den Seher aufs Schiff schickten. Anchises, der alt geworden zurückkam. Kalchas, der gar nicht zurückkam. Richtig: des Königs Schwester Hesione. Hesione, sagte mein Vater Priamos imRat und gab seiner Stimme einen weinerlich-pathetischen Klang: Hesione, die Schwester des Königs, festgehalten von dem Spartaner Telamon, der sie geraubt hat. Die Männer im Rat guckten verblüfft. Nun, nun, festgehalten, spottete Hekabe. Geraubt. Immerhin sei Hesione in Sparta keine erniedrigte Gefangene. Oder? Wenn man recht unterrichtet war, hatte jener Telamon sie zu seiner Frau gemacht? Zur Königin, oder? – Dies war überhaupt nicht die Frage. Ein König, der seine entführte Schwester nicht zurückzugewinnen suche, verliere sein Gesicht. Ach, sagte Hekabe, schneidend. Dann öffentlich nichts mehr. In ihrem Megaron stritten sie sich, und, was das Schlimmste war, der Vater schickte mich hinaus. Seine zwiespältigen Gefühle übertrugen sich auf mich, verdichteten sich zu einer Empfindung, die ihren Sitz in der Magengrube zu haben schien, eine vibrierende Spannung, die ich durch Parthena die Amme »Angst« nennen lernte. Mußt nicht soviel Angst haben, Töchterchen. Das Kind stellt sich zuviel vor.
    Fähnchen,Winken, Jubel, blinkendes Wasser, blitzende Ruder – fünfzig, notierten die Palastschreiber, die nichts als zählen konnten, auf ihren Tontäfelchen – bei der Ausfahrt des ZWEITEN SCHIFFES. Anstachelnde Losungen wurden den Männern zugerufen, die an Bord des Schiffes standen: Die Königsschwester oder den Tod! riefen, die zurückblieben. Neben mir stand Aineias und rief zu seinem Vater hinauf: Hesione oder den Tod! Ich erschrak und wußte, daß ich nicht erschrecken durfte: Aineias handelte im Sinn des Königshauses, dem ich angehörte, wenn er um einer fremden Frau willen, die zufällig des Königs Schwester war, seinem Vater den Tod wünschte. Ich unterdrückte mein Grauen undzwang mich, Aineias zu bewundern. Damals begannen meine zwiespältigen Gefühle. Auch die des Aineias – er hat es mir später gesagt.

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