Kassandra
Hellespont. Nun also. Das Ergebnis in Kurzfassung: Die Griechen einigten sich nicht über die Bedingungen, Lampos brachte reiche Opfergaben nach Delphi, die unser Vermögen beinah überschritten, dort sah ihn Panthoos, hängte sich an ihn, kam mit ihm zurück: Dem Jubelvolk konnte bei der Heimkehr etwas wie ein Beutestück vorgezeigt werden. Und unsre Palastschreiber,ein Völkchen für sich, das müßtest du wissen, machen nachträglich aus dem halbwegs mißglückten Unternehmen großmäulig das ERSTE SCHIFF.
Oi, oi. Doch in des Anchises strikter Nüchternheit war immer auch etwas wie Poesie, dem konnte ich mich nicht entziehn. Übrigens war er, da er das ZWEITE SCHIFF selbst mit geleitet hatte, unbestreitbar zuständig. Aber in den Höfen, wo wir uns über nichts so stritten wie über das ERSTE SCHIFF, hörte sich alles wieder vollkommen anders an. Hektor, der älteste meiner Brüder, damals ein kräftiger junger Mann mit eher zu weichem Gemüt, bestritt der Aktion Eins kategorisch jeden Erfolg. Nicht um einen Priester anzuschleppen, sei der Onkel Lampos zum Delphischen Orakel geschickt worden. Nicht? Wozu denn sonst? Hektor hatte es halboffiziell von den Priestern: Lampos habe die Pythia befragen sollen, ob auf dem Hügel, auf dem Troia stand, noch immer ein Fluch lag; ob also die Stadt und ihre Mauer, die gerade grundlegend erneuert wurde, sicher seien. Ungeheuerliche Vorstellung! Uns Jüngeren war Troia, die Stadt und alles, was ihr Name uns bedeutete, aus diesem Hügel Ate herausgewachsen als aus dem einzig vorstellbaren Platz auf Erden, im Angesicht des Berges Ida, der flirrenden Ebene davor und des Meerbusens mit dem natürlichen Hafen. Und mit der Stadt die Mauer – jene schützend, auch beengend –, an der in grauer Vorzeit Götter selbst, Apoll, Poseidon, hätten mitbaun müssen, so daß sie unzerstörbar, uneinnehmbar sei. So redeten die Leute, und ich hörte ihnen gierig zu, und hörte auch die Gegenrede: Wie! Wegen einer Leidenschaft für den Apollonpriester Panthoos sollte Vetter Lampos die Befragung der Pythia über dieallerwichtigsten Angelegenheiten Troias einfach vergessen haben? So daß die Mauer, ohne Segensspruch des mächtigen Orakels festgemacht, mitnichten uneinnehmbar, im Gegenteil: verletzlich sei? Das Skäische Tor ihr wunder Punkt? Und Panthoos: Nicht als Gefangner, freiwillig sei er unserm eher unscheinbaren Vetter übers Meer gefolgt? Und Priamos sei schwach genug gewesen, den Fremden zum Apollonpriester einzuweihn, was doch nichts andres heißen konnte, als die Oberhoheit Delphis in Fragen der Religion anzuerkennen? Zum mindesten in Fragen dieses einen Gotts Apoll?
Dies alles war so unvorstellbar. So dumm. So schlecht erfunden, daß ich, ein Kind, nur bitten konnte, mich damit zu verschonen. Doch juckte das Thema so sehr, machte mich so scharf auf jeden Gesprächsfetzen, in dem es aufblitzte, daß ich mich immer wieder in den Kreis der Ältren drängen mußte, durch Hektors damals schon mächtige Schenkel schlüpfen, an ihn gelehnt mich hinhocken und mir kein Wort darüber entgehen lassen konnte. Nicht durch Geburt, ach was, durch die Erzählungen in den Innenhöfen bin ich Troerin geworden. Durch das Geraune der Münder am Guckloch, als ich im Korb saß, habe ich aufgehört, es zu sein. Jetzt, da es Troia nicht mehr gibt, bin ich es wieder: Troerin. Nichts sonst.
Wem sag ich das.
Ja. Wenn durch nichts sonst – durch meine Vertrautheit mit den Innenhöfen, mit jeder Regung, die durch sie hindurchging und auch mich ergriff, durch mein absolutes Gehör für die Tonhöhe des Gewispers, das sie immerzu erfüllte, war ich Panthoos dem Griechen jedenfalls am Anfang überlegen. Hab ich ihn nicht sogareinmal gefragt, warum er hier sei – also dort, in Troia. Aus Neugier, meine Liebe, sagte er in dem frivolen Ton, den er sich zugelegt hatte. Aber konnte jemand aus Neugier das Orakel von Delphi, den Mittelpunkt der Welt, verlassen? – Ach meine kleine Ungläubige! Wenn du ihn kenntest, diesen Mittelpunkt. – Oft hat er mich mit Namen belegt, die mir erst später zukamen. Als ich Troia wirklich kannte, meinen Mittelpunkt, verstand ich ihn. Nicht Neugier wärs gewesen, die mich weggetrieben hätte: Entsetzen. Doch wohin hätte ich, mit welchem Schiff, noch fahren solln?
Ich weiß doch wirklich nicht, was dieser Panthoos mich so beschäftigt. Ist es ein Wort, das sich, an seinen Namen gehängt, aus sehr tiefen Tiefen, in die ich nicht hinabgestiegen bin, losmachen will? Ist es ein Bild?
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