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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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erfahren hatte, waren mit dem nächsten Gefangenentransport abgegangen, den König Priamos dem Hethiterkönig schickte. Niemand sprach den Namen des Kalchas noch aus, nicht im Guten und nicht im Bösen.
    Wie oft habe ich erfahren, daß heiß begehrte Gaben mir dann zufielen, wenn ich sie nicht mehr begehrte. Marpessa hat ihrer Zärtlichkeit für mich freien Lauf gelassen, seit ich unter ihren Augen von diesem Aias, den die Griechen Klein Aias nennen, vergewaltigt wurde; wenn ich recht gehört habe, hat sie gerufen: Nimm mich. Doch begreift sie genau, daß ich mich um keines Menschen Liebe oder Freundschaft mehr bewerbe. Nein.
    Daß man Unvereinbares nicht zusammenzwingen soll, darüber hat Hekabe mich früh belehrt, vergebens natürlich. Dein Vater, hat sie mir gesagt, will alles. Und alles gleichzeitig. Die Griechen sollen dafür zahlen,daß sie ihre Waren durch unsern Hellespont befördern dürfen: richtig. Sie sollen König Priamos dafür achten: falsch. Daß sie über ihn lachen, wenn sie sich überlegen glauben – was kränkt es ihn. Solln sie lachen, wenn sie zahlen. Und du, Kassandra, sagte Hekabe zu mir, du sieh zu, daß du nicht zu tief in deines Vaters Seele kriechst.
    Ich bin sehr müde. Einen zusammenhängenden Schlaf habe ich seit Wochen nicht gehabt. Unglaubhaft, aber ich könnt jetzt einschlafen. Kann ja nichts mehr verschieben, auch den Schlaf nicht. Ungut, übermüdet in den Tod zu gehn. Daß die Toten schlafen, das sagt man so, wahr ist es ja nicht. Ihre Augen stehn offen. Die aufgerissenen Augen der toten Brüder, die ich schloß, bei Troilos angefangen. Die Augen der Penthesilea, die Achill anstarrten, Achill das Vieh, darüber muß er verrückt geworden sein. Des Vaters offene tote Augen. Der Schwester Augen, Polyxenas, sah ich nicht im Tod. Als sie sie wegschleppten zum Grab des Achill, hatte sie den Blick, den sonst nur Tote haben. Daß Aineias’ Augen nicht den Tod, daß sie Schlaf finden werden in vielen Nächten, die kommen werden – ist es ein Trost? Kein Trost. Ein Wissen. Ich habe nur noch Wörter ungefärbt von Hoffnung oder Furcht.
    Vorhin, als die Königin aus dem Tor trat, ließ ich eine letzte sehr kleine Hoffnung in mir aufkommen, ich könnte ihr das Leben der Kinder abgewinnen. Ich hab ihr dann bloß in die Augen sehn müssen: Die tat, was sie mußte. Sie hat die Dinge nicht gemacht. Sie stellt sich auf den Stand der Dinge ein. Entweder sie entledigt sich des Mannes, dieses Hohlkopfs, gründlich, oder sie gibt sich auf: ihr Leben, ihre Regentschaft, denGeliebten, der übrigens, wenn ich mir die Figur im Hintergrunde richtig deute, gleichfalls ein selbstverliebter Hohlkopf ist, nur jünger, schöner, glattes Fleisch. Durch ein Schulterzucken gab sie mir zu verstehn, daß, was geschah, nicht mir persönlich galt. Nichts hätte zu andern Zeiten uns hindern können, uns Schwester zu nennen, das las ich der Gegnerin vom Gesicht ab, in dem Agamemnon, der Trottel, Liebe und Ergebenheit und Wiedersehensfreude sehen sollte und auch sah. Worauf er den roten Teppich hinaufstolperte wie der Ochs ins Schlachthaus, wir dachten es beide, und in den Mundwinkeln der Klytaimnestra erschien das gleiche Lächeln wie in den meinen. Nicht grausam. Schmerzlich. Daß das Schicksal uns nicht auf die gleiche Seite gestellt hat. Ich trau’s der andern zu, daß sie weiß: Auch sie wird von jener Blindheit befallen, die an Macht gekoppelt ist. Auch sie wird die Zeichen übersehen. Auch ihr Haus wird untergehn.
    Das hab ich lange nicht begriffen: daß nicht alle sehen konnten, was ich sah. Daß sie die nackte bedeutungslose Gestalt der Ereignisse nicht wahrnahmen. Ich dachte, sie hielten mich zum Narren. Aber sie glaubten sich ja. Das muß einen Sinn haben. Wenn wir Ameisen wären: Das ganze blinde Volk stürzt sich in den Graben, ertränkt sich, bildet die Brücke für die wenigen Überlebenden, die der Kern des neuen Volkes sind. Ameisengleich gehn wir in jedes Feuer. Jedes Wasser. Jeden Strom von Blut. Nur um nicht sehn zu müssen. Was denn? Uns.
    Als hätt ich einem Schiff, das ruhig lag, die Kette gelöst, unaufhaltsam schwimmt es im Strom, weiter hinunter, zurück. Als ich ein Kind war. Als ich ein Kindwar, hatte ich einen Bruder namens Aisakos, den liebte ich über alles, und er mich. Mehr als mich liebte er nur seine junge schöne Frau Asterope, und als die im Kindbett starb, konnte auch er nicht mehr leben und sprang von den Klippen ins Meer, wurde aber ein übers andre Mal von seinen Bewachern

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